leiden, Liebe, Haß, Bewunderung, kurz alle Ar- ten von Leidenschaften in der Seele rege macht, so ist die Einbildungskraft gut. Die Entstehung dieser Leidenschaften hängt immer von einer ge- wissen idealen Gegenwart der Gegenstände ab, und diese wird von der Einbildungskraft gewirkt. Eine rührende Begebenheit also mit Kaltsinn an- hören; bey der Erzählung einer vortreflichen That gleichgültig seyn; an dem Schicksale der Tugend- haften keinen Antheil nehmen; sich für keine Per- son oder für keine Art von menschlichen Vollkom- menheiten interessiren, zeigt nicht bloß ein unem- pfindliches Herz, sondern auch einen schwachen Kopf an. Die Seele muß ganz unfähig seyn, sich diese Art von Bildern nur vorzustellen, wenn sie von ihnen gar keine Wirkung em- pfindet.
Weiter! Wenn man bey gewissen Kindern zuweilen eine plötzliche Freude, eine Frucht, eine Niedergeschlagenheit sieht, die sich aus ihren ge- genwärtigen Empfindungen nicht erklären läßt; so kann man daraus auf eine geheime Geschäftig-
Ueber die Pruͤfung
leiden, Liebe, Haß, Bewunderung, kurz alle Ar- ten von Leidenſchaften in der Seele rege macht, ſo iſt die Einbildungskraft gut. Die Entſtehung dieſer Leidenſchaften haͤngt immer von einer ge- wiſſen idealen Gegenwart der Gegenſtaͤnde ab, und dieſe wird von der Einbildungskraft gewirkt. Eine ruͤhrende Begebenheit alſo mit Kaltſinn an- hoͤren; bey der Erzaͤhlung einer vortreflichen That gleichguͤltig ſeyn; an dem Schickſale der Tugend- haften keinen Antheil nehmen; ſich fuͤr keine Per- ſon oder fuͤr keine Art von menſchlichen Vollkom- menheiten intereſſiren, zeigt nicht bloß ein unem- pfindliches Herz, ſondern auch einen ſchwachen Kopf an. Die Seele muß ganz unfaͤhig ſeyn, ſich dieſe Art von Bildern nur vorzuſtellen, wenn ſie von ihnen gar keine Wirkung em- pfindet.
Weiter! Wenn man bey gewiſſen Kindern zuweilen eine ploͤtzliche Freude, eine Frucht, eine Niedergeſchlagenheit ſieht, die ſich aus ihren ge- genwaͤrtigen Empfindungen nicht erklaͤren laͤßt; ſo kann man daraus auf eine geheime Geſchaͤftig-
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Ueber die Pruͤfung
leiden, Liebe, Haß, Bewunderung, kurz alle Ar-
ten von Leidenſchaften in der Seele rege macht,
ſo iſt die Einbildungskraft gut. Die Entſtehung
dieſer Leidenſchaften haͤngt immer von einer ge-
wiſſen idealen Gegenwart der Gegenſtaͤnde ab,
und dieſe wird von der Einbildungskraft gewirkt.
Eine ruͤhrende Begebenheit alſo mit Kaltſinn an-
hoͤren; bey der Erzaͤhlung einer vortreflichen That
gleichguͤltig ſeyn; an dem Schickſale der Tugend-
haften keinen Antheil nehmen; ſich fuͤr keine Per-
ſon oder fuͤr keine Art von menſchlichen Vollkom-
menheiten intereſſiren, zeigt nicht bloß ein unem-
pfindliches Herz, ſondern auch einen ſchwachen
Kopf an. Die Seele muß ganz unfaͤhig ſeyn,
ſich dieſe Art von Bildern nur vorzuſtellen,
wenn ſie von ihnen gar keine Wirkung em-
pfindet.
Weiter! Wenn man bey gewiſſen Kindern
zuweilen eine ploͤtzliche Freude, eine Frucht, eine
Niedergeſchlagenheit ſieht, die ſich aus ihren ge-
genwaͤrtigen Empfindungen nicht erklaͤren laͤßt;
ſo kann man daraus auf eine geheime Geſchaͤftig-
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/46>, abgerufen am 16.02.2025.
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