men rechtfectigt: so erkennt wenigstens die ge- sunde Vernunft den Unterschied, den wir zwi- schen den beiden Begriffen gemacht haben. Es ist gewiß, dgß der Zeitpunkt, in welchem der Dichter erfindet, und seinen Gegenstand geistig anschaut, nicht derjenige ist, wo er sich hinsezt und seine Verse ausarbeitet. Es ist gewiß, daß jener Aktus in aller seiner Vollkommenheit vor- gegangen seyn, und daß dieser zweyte jene Voll- kommenheit wieder verdunkeln oder zerstören kann; daß der Dichter, indem er sich zur äußern Darstellung seines innern Bilders wendet, wenn er die Wörter, den Reim, das Sylbenmaaß sucht, das Wahre entweder zu kalt oder zu kühn, zu flüchtig oder zu umständlich sagen könne.
Das Wahre ist allen Epochen der Dichtkunst gemein. Zu jeder Zeit hat es große Geister ge- geben, die die Natur kennen und fühlen. Das Natürliche unterscheidet sie. In den ältesten Zeiten bleibt in der Schilderung der Leidenschaf- ten der Ausdruck etwas zurück. Er ist matt, kurz, vorübereilend. In den Zeiten der blü-
Einige Gedanken
men rechtfectigt: ſo erkennt wenigſtens die ge- ſunde Vernunft den Unterſchied, den wir zwi- ſchen den beiden Begriffen gemacht haben. Es iſt gewiß, dgß der Zeitpunkt, in welchem der Dichter erfindet, und ſeinen Gegenſtand geiſtig anſchaut, nicht derjenige iſt, wo er ſich hinſezt und ſeine Verſe ausarbeitet. Es iſt gewiß, daß jener Aktus in aller ſeiner Vollkommenheit vor- gegangen ſeyn, und daß dieſer zweyte jene Voll- kommenheit wieder verdunkeln oder zerſtoͤren kann; daß der Dichter, indem er ſich zur aͤußern Darſtellung ſeines innern Bilders wendet, wenn er die Woͤrter, den Reim, das Sylbenmaaß ſucht, das Wahre entweder zu kalt oder zu kuͤhn, zu fluͤchtig oder zu umſtaͤndlich ſagen koͤnne.
Das Wahre iſt allen Epochen der Dichtkunſt gemein. Zu jeder Zeit hat es große Geiſter ge- geben, die die Natur kennen und fuͤhlen. Das Natuͤrliche unterſcheidet ſie. In den aͤlteſten Zeiten bleibt in der Schilderung der Leidenſchaf- ten der Ausdruck etwas zuruͤck. Er iſt matt, kurz, voruͤbereilend. In den Zeiten der bluͤ-
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Einige Gedanken
men rechtfectigt: ſo erkennt wenigſtens die ge-
ſunde Vernunft den Unterſchied, den wir zwi-
ſchen den beiden Begriffen gemacht haben. Es
iſt gewiß, dgß der Zeitpunkt, in welchem der
Dichter erfindet, und ſeinen Gegenſtand geiſtig
anſchaut, nicht derjenige iſt, wo er ſich hinſezt
und ſeine Verſe ausarbeitet. Es iſt gewiß, daß
jener Aktus in aller ſeiner Vollkommenheit vor-
gegangen ſeyn, und daß dieſer zweyte jene Voll-
kommenheit wieder verdunkeln oder zerſtoͤren
kann; daß der Dichter, indem er ſich zur aͤußern
Darſtellung ſeines innern Bilders wendet, wenn
er die Woͤrter, den Reim, das Sylbenmaaß
ſucht, das Wahre entweder zu kalt oder zu kuͤhn,
zu fluͤchtig oder zu umſtaͤndlich ſagen koͤnne.
Das Wahre iſt allen Epochen der Dichtkunſt
gemein. Zu jeder Zeit hat es große Geiſter ge-
geben, die die Natur kennen und fuͤhlen. Das
Natuͤrliche unterſcheidet ſie. In den aͤlteſten
Zeiten bleibt in der Schilderung der Leidenſchaf-
ten der Ausdruck etwas zuruͤck. Er iſt matt,
kurz, voruͤbereilend. In den Zeiten der bluͤ-
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/392>, abgerufen am 16.02.2025.
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