eder Mensch einer höchsten Vollkommenheit fähig ist, die nur seine Vollkommenheit seyn würde; son- dern wir wissen nur von einer höchsten Vollkom- menheit der ganzen Gattung. Unsre Moral selbst leidet noch von dieser Unzulänglichkeit unsrer Ein- sicht, weil sie sich ebenfalls die gemeinschaftliche Natur als das Muster aller einzelnen Naturen vorstellen, und es also jedem Menschen überlassen muß, die bestimmtere Art der ihm eignen Voll- kommenheit besser zu empfinden, als sie sie ihm erklären kann.
Es ist also allerdings wahr, daß der Dichter weniger darauf arbeiten muß, seinen Charakteren die höchste moralische Größe, als vielmehr ihnen mo- ralische Richtigkeit und Verhältniß zu geben; ist er selbst nicht ein sehr großer Mann, so wird er zu der Bildung eines solchen Charakters seinen Geist auf eine gewaltsame Weise anstrengen müssen, und er wird nicht einen großen Mann, sondern einen großen Riesen hervorbringen. Es ist wahr, daß der Dichter uns öfter das Spiel von Eitelkeit und Verstand, die Mischung von Thorheit und
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uͤber das Intereſſirende.
eder Menſch einer hoͤchſten Vollkommenheit faͤhig iſt, die nur ſeine Vollkommenheit ſeyn wuͤrde; ſon- dern wir wiſſen nur von einer hoͤchſten Vollkom- menheit der ganzen Gattung. Unſre Moral ſelbſt leidet noch von dieſer Unzulaͤnglichkeit unſrer Ein- ſicht, weil ſie ſich ebenfalls die gemeinſchaftliche Natur als das Muſter aller einzelnen Naturen vorſtellen, und es alſo jedem Menſchen uͤberlaſſen muß, die beſtimmtere Art der ihm eignen Voll- kommenheit beſſer zu empfinden, als ſie ſie ihm erklaͤren kann.
Es iſt alſo allerdings wahr, daß der Dichter weniger darauf arbeiten muß, ſeinen Charakteren die hoͤchſte moraliſche Groͤße, als vielmehr ihnen mo- raliſche Richtigkeit und Verhaͤltniß zu geben; iſt er ſelbſt nicht ein ſehr großer Mann, ſo wird er zu der Bildung eines ſolchen Charakters ſeinen Geiſt auf eine gewaltſame Weiſe anſtrengen muͤſſen, und er wird nicht einen großen Mann, ſondern einen großen Rieſen hervorbringen. Es iſt wahr, daß der Dichter uns oͤfter das Spiel von Eitelkeit und Verſtand, die Miſchung von Thorheit und
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uͤber das Intereſſirende.
eder Menſch einer hoͤchſten Vollkommenheit faͤhig
iſt, die nur ſeine Vollkommenheit ſeyn wuͤrde; ſon-
dern wir wiſſen nur von einer hoͤchſten Vollkom-
menheit der ganzen Gattung. Unſre Moral ſelbſt
leidet noch von dieſer Unzulaͤnglichkeit unſrer Ein-
ſicht, weil ſie ſich ebenfalls die gemeinſchaftliche
Natur als das Muſter aller einzelnen Naturen
vorſtellen, und es alſo jedem Menſchen uͤberlaſſen
muß, die beſtimmtere Art der ihm eignen Voll-
kommenheit beſſer zu empfinden, als ſie ſie ihm
erklaͤren kann.
Es iſt alſo allerdings wahr, daß der Dichter
weniger darauf arbeiten muß, ſeinen Charakteren
die hoͤchſte moraliſche Groͤße, als vielmehr ihnen mo-
raliſche Richtigkeit und Verhaͤltniß zu geben; iſt er
ſelbſt nicht ein ſehr großer Mann, ſo wird er zu
der Bildung eines ſolchen Charakters ſeinen Geiſt
auf eine gewaltſame Weiſe anſtrengen muͤſſen, und
er wird nicht einen großen Mann, ſondern einen
großen Rieſen hervorbringen. Es iſt wahr, daß
der Dichter uns oͤfter das Spiel von Eitelkeit
und Verſtand, die Miſchung von Thorheit und
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/381>, abgerufen am 16.02.2025.
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