Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite
über das Interessirende.

Die Geschichte des Geschmacks bestätigt diese
Anmerkung. Vor rohen Zuschauern bringt man
alles, was auf dem Theater ist, um; das heißt,
man will, daß alle Personen durch ihr eigen Un-
glück, keine bloß durch ihre Theilnehmung an ei-
nem fremden Unglück, die Zuschauer rühre. Aber
was ist der Erfolg? Die Zurüstungen der Exeku-
tion vergnügen diese rohen Zuschauer mehr, als
die Todesfälle selbst sie rühren. In einem aufge-
klärten und geschmackvollen Jahrhunderte läßt
der Dichter nur Einen sterben, nur Einer wird
wirklich und persönlich unglücklich. Aber die-
ser Eine ist ein Vater, er ist ein Gemahl, ein
Hausherr, ein König, eine Stütze verlassener Ar-
men. Aller dieser ihre Empfindungen sind so
viel reflektirte Stralen, die ein gemäßigteres, aber
ein lieblicheres Licht geben, als die Stralen, wel-
che unmittelbar von dem Gegenstande selbst aus-
laufen.

3) Das Leiden des Verlustes ist rührender
als das Leiden des Schmerzens. Nämlich daran
liegt alles, daß der Zuschauer von dem Zustande,

uͤber das Intereſſirende.

Die Geſchichte des Geſchmacks beſtaͤtigt dieſe
Anmerkung. Vor rohen Zuſchauern bringt man
alles, was auf dem Theater iſt, um; das heißt,
man will, daß alle Perſonen durch ihr eigen Un-
gluͤck, keine bloß durch ihre Theilnehmung an ei-
nem fremden Ungluͤck, die Zuſchauer ruͤhre. Aber
was iſt der Erfolg? Die Zuruͤſtungen der Exeku-
tion vergnuͤgen dieſe rohen Zuſchauer mehr, als
die Todesfaͤlle ſelbſt ſie ruͤhren. In einem aufge-
klaͤrten und geſchmackvollen Jahrhunderte laͤßt
der Dichter nur Einen ſterben, nur Einer wird
wirklich und perſoͤnlich ungluͤcklich. Aber die-
ſer Eine iſt ein Vater, er iſt ein Gemahl, ein
Hausherr, ein Koͤnig, eine Stuͤtze verlaſſener Ar-
men. Aller dieſer ihre Empfindungen ſind ſo
viel reflektirte Stralen, die ein gemaͤßigteres, aber
ein lieblicheres Licht geben, als die Stralen, wel-
che unmittelbar von dem Gegenſtande ſelbſt aus-
laufen.

3) Das Leiden des Verluſtes iſt ruͤhrender
als das Leiden des Schmerzens. Naͤmlich daran
liegt alles, daß der Zuſchauer von dem Zuſtande,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0371" n="365"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">u&#x0364;ber das Intere&#x017F;&#x017F;irende.</hi> </fw><lb/>
        <p>Die Ge&#x017F;chichte des Ge&#x017F;chmacks be&#x017F;ta&#x0364;tigt die&#x017F;e<lb/>
Anmerkung. Vor rohen Zu&#x017F;chauern bringt man<lb/>
alles, was auf dem Theater i&#x017F;t, um; das heißt,<lb/>
man will, daß alle Per&#x017F;onen durch <hi rendition="#fr">ihr eigen</hi> Un-<lb/>
glu&#x0364;ck, keine bloß durch ihre Theilnehmung an ei-<lb/>
nem fremden Unglu&#x0364;ck, die Zu&#x017F;chauer ru&#x0364;hre. Aber<lb/>
was i&#x017F;t der Erfolg? Die Zuru&#x0364;&#x017F;tungen der Exeku-<lb/>
tion vergnu&#x0364;gen die&#x017F;e rohen Zu&#x017F;chauer mehr, als<lb/>
die Todesfa&#x0364;lle &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ie ru&#x0364;hren. In einem aufge-<lb/>
kla&#x0364;rten und ge&#x017F;chmackvollen Jahrhunderte la&#x0364;ßt<lb/>
der Dichter nur <hi rendition="#fr">Einen</hi> &#x017F;terben, nur Einer wird<lb/><hi rendition="#fr">wirklich</hi> und <hi rendition="#fr">per&#x017F;o&#x0364;nlich</hi> unglu&#x0364;cklich. Aber die-<lb/>
&#x017F;er Eine i&#x017F;t ein Vater, er i&#x017F;t ein Gemahl, ein<lb/>
Hausherr, ein Ko&#x0364;nig, eine Stu&#x0364;tze verla&#x017F;&#x017F;ener Ar-<lb/>
men. Aller die&#x017F;er ihre Empfindungen &#x017F;ind &#x017F;o<lb/>
viel reflektirte Stralen, die ein gema&#x0364;ßigteres, aber<lb/>
ein lieblicheres Licht geben, als die Stralen, wel-<lb/>
che unmittelbar von dem Gegen&#x017F;tande &#x017F;elb&#x017F;t aus-<lb/>
laufen.</p><lb/>
        <p>3) Das Leiden des <hi rendition="#fr">Verlu&#x017F;tes</hi> i&#x017F;t ru&#x0364;hrender<lb/>
als das Leiden des <hi rendition="#fr">Schmerzens.</hi> Na&#x0364;mlich daran<lb/>
liegt alles, daß der Zu&#x017F;chauer von dem Zu&#x017F;tande,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[365/0371] uͤber das Intereſſirende. Die Geſchichte des Geſchmacks beſtaͤtigt dieſe Anmerkung. Vor rohen Zuſchauern bringt man alles, was auf dem Theater iſt, um; das heißt, man will, daß alle Perſonen durch ihr eigen Un- gluͤck, keine bloß durch ihre Theilnehmung an ei- nem fremden Ungluͤck, die Zuſchauer ruͤhre. Aber was iſt der Erfolg? Die Zuruͤſtungen der Exeku- tion vergnuͤgen dieſe rohen Zuſchauer mehr, als die Todesfaͤlle ſelbſt ſie ruͤhren. In einem aufge- klaͤrten und geſchmackvollen Jahrhunderte laͤßt der Dichter nur Einen ſterben, nur Einer wird wirklich und perſoͤnlich ungluͤcklich. Aber die- ſer Eine iſt ein Vater, er iſt ein Gemahl, ein Hausherr, ein Koͤnig, eine Stuͤtze verlaſſener Ar- men. Aller dieſer ihre Empfindungen ſind ſo viel reflektirte Stralen, die ein gemaͤßigteres, aber ein lieblicheres Licht geben, als die Stralen, wel- che unmittelbar von dem Gegenſtande ſelbſt aus- laufen. 3) Das Leiden des Verluſtes iſt ruͤhrender als das Leiden des Schmerzens. Naͤmlich daran liegt alles, daß der Zuſchauer von dem Zuſtande,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/371
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/371>, abgerufen am 25.11.2024.