Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Einige Gedanken
können solche Verwickelungen nicht anders als
unwahrscheinlich und unnatürlich scheinen; und
wenn sie auch dieß nicht wären, so würden sie
das größte Interesse für einen feinern und gesit-
teten Zuschauer, die Theilnehmung an der Mo-
ralität der Handlungen, aufheben.

Noch zu einer Erklärung müssen wir diese
Anmerkungen über den Streit der Leidenschaften
anwenden.

Was ist wohl das, was die Kunstrichter
eine Situation nennen? Es ist eine Zusammen-
kunft solcher Umstände und Begebenheiten, durch
welche die Empfindungen oder Leidenschaften der
handelnden Person, in Wirksamkeit gesezt und
genöthigt werden, in Entschlüssen und Hand-
lungen auszubrechen. Aber wodurch werden sie
in diese Wirksamkeit gesezt? Gemeiniglich durch
einen solchen Streit, als wir bisher betrachtet
haben.

So wie wir in der Körperwelt die Kräfte
nur nach dem Widerstande messen, den sie über-
winden, so messen wir in der moralischen Welt,

Einige Gedanken
koͤnnen ſolche Verwickelungen nicht anders als
unwahrſcheinlich und unnatuͤrlich ſcheinen; und
wenn ſie auch dieß nicht waͤren, ſo wuͤrden ſie
das groͤßte Intereſſe fuͤr einen feinern und geſit-
teten Zuſchauer, die Theilnehmung an der Mo-
ralitaͤt der Handlungen, aufheben.

Noch zu einer Erklaͤrung muͤſſen wir dieſe
Anmerkungen uͤber den Streit der Leidenſchaften
anwenden.

Was iſt wohl das, was die Kunſtrichter
eine Situation nennen? Es iſt eine Zuſammen-
kunft ſolcher Umſtaͤnde und Begebenheiten, durch
welche die Empfindungen oder Leidenſchaften der
handelnden Perſon, in Wirkſamkeit geſezt und
genoͤthigt werden, in Entſchluͤſſen und Hand-
lungen auszubrechen. Aber wodurch werden ſie
in dieſe Wirkſamkeit geſezt? Gemeiniglich durch
einen ſolchen Streit, als wir bisher betrachtet
haben.

So wie wir in der Koͤrperwelt die Kraͤfte
nur nach dem Widerſtande meſſen, den ſie uͤber-
winden, ſo meſſen wir in der moraliſchen Welt,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0360" n="354"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Einige Gedanken</hi></fw><lb/>
ko&#x0364;nnen &#x017F;olche Verwickelungen nicht anders als<lb/>
unwahr&#x017F;cheinlich und unnatu&#x0364;rlich &#x017F;cheinen; und<lb/>
wenn &#x017F;ie auch dieß nicht wa&#x0364;ren, &#x017F;o wu&#x0364;rden &#x017F;ie<lb/>
das gro&#x0364;ßte Intere&#x017F;&#x017F;e fu&#x0364;r einen feinern und ge&#x017F;it-<lb/>
teten Zu&#x017F;chauer, die Theilnehmung an der Mo-<lb/>
ralita&#x0364;t der Handlungen, aufheben.</p><lb/>
        <p>Noch zu einer Erkla&#x0364;rung mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir die&#x017F;e<lb/>
Anmerkungen u&#x0364;ber den Streit der Leiden&#x017F;chaften<lb/>
anwenden.</p><lb/>
        <p>Was i&#x017F;t wohl das, was die Kun&#x017F;trichter<lb/>
eine <hi rendition="#fr">Situation</hi> nennen? Es i&#x017F;t eine Zu&#x017F;ammen-<lb/>
kunft &#x017F;olcher Um&#x017F;ta&#x0364;nde und Begebenheiten, durch<lb/>
welche die Empfindungen oder Leiden&#x017F;chaften der<lb/>
handelnden Per&#x017F;on, in Wirk&#x017F;amkeit ge&#x017F;ezt und<lb/>
geno&#x0364;thigt werden, in Ent&#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en und Hand-<lb/>
lungen auszubrechen. Aber wodurch werden &#x017F;ie<lb/>
in die&#x017F;e Wirk&#x017F;amkeit ge&#x017F;ezt? Gemeiniglich durch<lb/>
einen &#x017F;olchen Streit, als wir bisher betrachtet<lb/>
haben.</p><lb/>
        <p>So wie wir in der Ko&#x0364;rperwelt die Kra&#x0364;fte<lb/>
nur nach dem Wider&#x017F;tande me&#x017F;&#x017F;en, den &#x017F;ie u&#x0364;ber-<lb/>
winden, &#x017F;o me&#x017F;&#x017F;en wir in der morali&#x017F;chen Welt,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[354/0360] Einige Gedanken koͤnnen ſolche Verwickelungen nicht anders als unwahrſcheinlich und unnatuͤrlich ſcheinen; und wenn ſie auch dieß nicht waͤren, ſo wuͤrden ſie das groͤßte Intereſſe fuͤr einen feinern und geſit- teten Zuſchauer, die Theilnehmung an der Mo- ralitaͤt der Handlungen, aufheben. Noch zu einer Erklaͤrung muͤſſen wir dieſe Anmerkungen uͤber den Streit der Leidenſchaften anwenden. Was iſt wohl das, was die Kunſtrichter eine Situation nennen? Es iſt eine Zuſammen- kunft ſolcher Umſtaͤnde und Begebenheiten, durch welche die Empfindungen oder Leidenſchaften der handelnden Perſon, in Wirkſamkeit geſezt und genoͤthigt werden, in Entſchluͤſſen und Hand- lungen auszubrechen. Aber wodurch werden ſie in dieſe Wirkſamkeit geſezt? Gemeiniglich durch einen ſolchen Streit, als wir bisher betrachtet haben. So wie wir in der Koͤrperwelt die Kraͤfte nur nach dem Widerſtande meſſen, den ſie uͤber- winden, ſo meſſen wir in der moraliſchen Welt,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/360
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/360>, abgerufen am 22.11.2024.