nur der Leser, der das Unglück, welches sie er- litten hat, mit dem Glücke, was ihr bevorstund vergleicht: so ist die Situation wehmüthig.
Im ersten Falle wird das Leiden des Helden selbst vergrößert; im zweyten wird nur die Vor- stellung dieses Leidens bey dem Zuschauer leb- hafter.
Ein zweyter Fall, wo nicht ein eigentlicher Streit der Leidenschaften, aber doch ein gewisser Widerspruch in den Begebenheiten und Gemüths- bewegungen das Interesse vermehrt, ist der Fall des Oedips, der gerade durch die Mittel, welche er anwendet, sich zu retten, sein Unglück be- schleunigt, gerade durch die Nachrichten, welche ihm einen Zuwachs von Glückseligkeit verspre- chen, seines Unglücks gewiß wird. Derselbe Bote, welcher ihm die Krone von Korinth an- bietet, beweist es ihm, daß er Lajus und Joka- stens Sohn sey. Aber woher entsteht hier das größere Interesse? Aus der nämlichen Ursache, als im vorigen Falle, aus dem größern Aufruhre in dem Gemüthe des Leidenden. Dort war es
uͤber das Intereſſirende.
nur der Leſer, der das Ungluͤck, welches ſie er- litten hat, mit dem Gluͤcke, was ihr bevorſtund vergleicht: ſo iſt die Situation wehmuͤthig.
Im erſten Falle wird das Leiden des Helden ſelbſt vergroͤßert; im zweyten wird nur die Vor- ſtellung dieſes Leidens bey dem Zuſchauer leb- hafter.
Ein zweyter Fall, wo nicht ein eigentlicher Streit der Leidenſchaften, aber doch ein gewiſſer Widerſpruch in den Begebenheiten und Gemuͤths- bewegungen das Intereſſe vermehrt, iſt der Fall des Oedips, der gerade durch die Mittel, welche er anwendet, ſich zu retten, ſein Ungluͤck be- ſchleunigt, gerade durch die Nachrichten, welche ihm einen Zuwachs von Gluͤckſeligkeit verſpre- chen, ſeines Ungluͤcks gewiß wird. Derſelbe Bote, welcher ihm die Krone von Korinth an- bietet, beweiſt es ihm, daß er Lajus und Joka- ſtens Sohn ſey. Aber woher entſteht hier das groͤßere Intereſſe? Aus der naͤmlichen Urſache, als im vorigen Falle, aus dem groͤßern Aufruhre in dem Gemuͤthe des Leidenden. Dort war es
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uͤber das Intereſſirende.
nur der Leſer, der das Ungluͤck, welches ſie er-
litten hat, mit dem Gluͤcke, was ihr bevorſtund
vergleicht: ſo iſt die Situation wehmuͤthig.
Im erſten Falle wird das Leiden des Helden
ſelbſt vergroͤßert; im zweyten wird nur die Vor-
ſtellung dieſes Leidens bey dem Zuſchauer leb-
hafter.
Ein zweyter Fall, wo nicht ein eigentlicher
Streit der Leidenſchaften, aber doch ein gewiſſer
Widerſpruch in den Begebenheiten und Gemuͤths-
bewegungen das Intereſſe vermehrt, iſt der Fall
des Oedips, der gerade durch die Mittel, welche
er anwendet, ſich zu retten, ſein Ungluͤck be-
ſchleunigt, gerade durch die Nachrichten, welche
ihm einen Zuwachs von Gluͤckſeligkeit verſpre-
chen, ſeines Ungluͤcks gewiß wird. Derſelbe
Bote, welcher ihm die Krone von Korinth an-
bietet, beweiſt es ihm, daß er Lajus und Joka-
ſtens Sohn ſey. Aber woher entſteht hier das
groͤßere Intereſſe? Aus der naͤmlichen Urſache,
als im vorigen Falle, aus dem groͤßern Aufruhre
in dem Gemuͤthe des Leidenden. Dort war es
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/357>, abgerufen am 22.11.2024.
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