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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

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Einige Gedanken
digung erlaubt ist. Eine empfangne Ohrfeige er-
regt den ganzen Tumult in dem Cid, und dieser
Tumult scheint den Zuschauern nicht übertrieben.
Die Rache der Elektra ist grausam; aber die Er-
mordung eines Vaters schien sie den Griechen zu
rechtfertigen. Verschieden werden sie seyn über
den Werth der Tugenden, die sich in den ver-
schiedenen Leidenschaften äußern. Jede Art der
Fähigkeiten und Tugenden, die Tapferkeit, die
Mäßigkeit, die Menschenliebe, hat ihre Epoche in
der menschlichen Gesellschaft; vielleicht hat es
noch keinen Zeitpunkt gegeben, wo alle Tugenden
auf gleiche Art wären geschäzt worden. Zu der
einen Zeit wird man geneigt seyn, auch Hand-
lungen der Ungerechtigkeit und Grausamkeit zu
entschuldigen, wenn sie nur mit Entschlossenheit
unternommen und mit Muth ausgeführt wor-
den; zu einer andern wird man auch weibisches
tändelndes Wesen vertragen können, wenn es
nur mit Feinheit der Sitten und Gutherzigkeit
verbunden ist.

So viel sagte uns die Natur des Menschen;
was sagt uns nun die Praxis der Dichter?

Einige Gedanken
digung erlaubt iſt. Eine empfangne Ohrfeige er-
regt den ganzen Tumult in dem Cid, und dieſer
Tumult ſcheint den Zuſchauern nicht uͤbertrieben.
Die Rache der Elektra iſt grauſam; aber die Er-
mordung eines Vaters ſchien ſie den Griechen zu
rechtfertigen. Verſchieden werden ſie ſeyn uͤber
den Werth der Tugenden, die ſich in den ver-
ſchiedenen Leidenſchaften aͤußern. Jede Art der
Faͤhigkeiten und Tugenden, die Tapferkeit, die
Maͤßigkeit, die Menſchenliebe, hat ihre Epoche in
der menſchlichen Geſellſchaft; vielleicht hat es
noch keinen Zeitpunkt gegeben, wo alle Tugenden
auf gleiche Art waͤren geſchaͤzt worden. Zu der
einen Zeit wird man geneigt ſeyn, auch Hand-
lungen der Ungerechtigkeit und Grauſamkeit zu
entſchuldigen, wenn ſie nur mit Entſchloſſenheit
unternommen und mit Muth ausgefuͤhrt wor-
den; zu einer andern wird man auch weibiſches
taͤndelndes Weſen vertragen koͤnnen, wenn es
nur mit Feinheit der Sitten und Gutherzigkeit
verbunden iſt.

So viel ſagte uns die Natur des Menſchen;
was ſagt uns nun die Praxis der Dichter?

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[332/0338] Einige Gedanken digung erlaubt iſt. Eine empfangne Ohrfeige er- regt den ganzen Tumult in dem Cid, und dieſer Tumult ſcheint den Zuſchauern nicht uͤbertrieben. Die Rache der Elektra iſt grauſam; aber die Er- mordung eines Vaters ſchien ſie den Griechen zu rechtfertigen. Verſchieden werden ſie ſeyn uͤber den Werth der Tugenden, die ſich in den ver- ſchiedenen Leidenſchaften aͤußern. Jede Art der Faͤhigkeiten und Tugenden, die Tapferkeit, die Maͤßigkeit, die Menſchenliebe, hat ihre Epoche in der menſchlichen Geſellſchaft; vielleicht hat es noch keinen Zeitpunkt gegeben, wo alle Tugenden auf gleiche Art waͤren geſchaͤzt worden. Zu der einen Zeit wird man geneigt ſeyn, auch Hand- lungen der Ungerechtigkeit und Grauſamkeit zu entſchuldigen, wenn ſie nur mit Entſchloſſenheit unternommen und mit Muth ausgefuͤhrt wor- den; zu einer andern wird man auch weibiſches taͤndelndes Weſen vertragen koͤnnen, wenn es nur mit Feinheit der Sitten und Gutherzigkeit verbunden iſt. So viel ſagte uns die Natur des Menſchen; was ſagt uns nun die Praxis der Dichter?

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Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/338>, abgerufen am 22.11.2024.