Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Einige Gedanken
für löblich, und den Grad derselben für billig
und der Ursache gemäß ansehen. Die Stoiker
sagten, unsre eigne Leidenschaften bekämen da-
durch ihre größte Stärke, weil wir aus Irrthum
es für recht hielten, sie zu haben. Wir wollen
jezt nicht untersuchen, wie weit dieses wahr sey;
aber so yiel ist gewiß, daß jede Leidenschaft ge-
schwinder entsteht, und auf eine größere Höhe
steigt, wenn wir durch den Gedanken von Un-
rechtmäßigkeir oder von Thorheit nicht zurück
gehalten werden. Der freywillige Entschluß der
Seele gesellt sich bey Leidenschaften, die wir bil-
ligen, zu dem unfreywilligen Eindrucke der Ge-
genstände; und diese vereinigte Kraft unsrer selbst
und des Dinges macht also die Wirkung größer.

So wie in den Begriffen von der Moralität
etwas Festes und Unwandelbares, und etwas
Veränderliches und Willkührliches ist; so werden
auch die Leidenschaften, welche man billiget, zum
Theil bey allen Menschen dieselben, zum Theil
durch die Verschiedenheit der Sitten und der Ge-
seze verschieden seyn.

Einige Gedanken
fuͤr loͤblich, und den Grad derſelben fuͤr billig
und der Urſache gemaͤß anſehen. Die Stoiker
ſagten, unſre eigne Leidenſchaften bekaͤmen da-
durch ihre groͤßte Staͤrke, weil wir aus Irrthum
es fuͤr recht hielten, ſie zu haben. Wir wollen
jezt nicht unterſuchen, wie weit dieſes wahr ſey;
aber ſo yiel iſt gewiß, daß jede Leidenſchaft ge-
ſchwinder entſteht, und auf eine groͤßere Hoͤhe
ſteigt, wenn wir durch den Gedanken von Un-
rechtmaͤßigkeir oder von Thorheit nicht zuruͤck
gehalten werden. Der freywillige Entſchluß der
Seele geſellt ſich bey Leidenſchaften, die wir bil-
ligen, zu dem unfreywilligen Eindrucke der Ge-
genſtaͤnde; und dieſe vereinigte Kraft unſrer ſelbſt
und des Dinges macht alſo die Wirkung groͤßer.

So wie in den Begriffen von der Moralitaͤt
etwas Feſtes und Unwandelbares, und etwas
Veraͤnderliches und Willkuͤhrliches iſt; ſo werden
auch die Leidenſchaften, welche man billiget, zum
Theil bey allen Menſchen dieſelben, zum Theil
durch die Verſchiedenheit der Sitten und der Ge-
ſeze verſchieden ſeyn.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0336" n="330"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Einige Gedanken</hi></fw><lb/>
fu&#x0364;r lo&#x0364;blich, und den Grad der&#x017F;elben fu&#x0364;r billig<lb/>
und der Ur&#x017F;ache gema&#x0364;ß an&#x017F;ehen. Die Stoiker<lb/>
&#x017F;agten, un&#x017F;re eigne Leiden&#x017F;chaften beka&#x0364;men da-<lb/>
durch ihre gro&#x0364;ßte Sta&#x0364;rke, weil wir aus Irrthum<lb/>
es fu&#x0364;r recht hielten, &#x017F;ie zu haben. Wir wollen<lb/>
jezt nicht unter&#x017F;uchen, wie weit die&#x017F;es wahr &#x017F;ey;<lb/>
aber &#x017F;o yiel i&#x017F;t gewiß, daß jede Leiden&#x017F;chaft ge-<lb/>
&#x017F;chwinder ent&#x017F;teht, und auf eine gro&#x0364;ßere Ho&#x0364;he<lb/>
&#x017F;teigt, wenn wir durch den Gedanken von Un-<lb/>
rechtma&#x0364;ßigkeir oder von Thorheit nicht zuru&#x0364;ck<lb/>
gehalten werden. Der freywillige Ent&#x017F;chluß der<lb/>
Seele ge&#x017F;ellt &#x017F;ich bey Leiden&#x017F;chaften, die wir bil-<lb/>
ligen, zu dem unfreywilligen Eindrucke der Ge-<lb/>
gen&#x017F;ta&#x0364;nde; und die&#x017F;e vereinigte Kraft un&#x017F;rer &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
und des Dinges macht al&#x017F;o die Wirkung gro&#x0364;ßer.</p><lb/>
        <p>So wie in den Begriffen von der Moralita&#x0364;t<lb/>
etwas Fe&#x017F;tes und Unwandelbares, und etwas<lb/>
Vera&#x0364;nderliches und Willku&#x0364;hrliches i&#x017F;t; &#x017F;o werden<lb/>
auch die Leiden&#x017F;chaften, welche man billiget, zum<lb/>
Theil bey allen Men&#x017F;chen die&#x017F;elben, zum Theil<lb/>
durch die Ver&#x017F;chiedenheit der Sitten und der Ge-<lb/>
&#x017F;eze ver&#x017F;chieden &#x017F;eyn.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[330/0336] Einige Gedanken fuͤr loͤblich, und den Grad derſelben fuͤr billig und der Urſache gemaͤß anſehen. Die Stoiker ſagten, unſre eigne Leidenſchaften bekaͤmen da- durch ihre groͤßte Staͤrke, weil wir aus Irrthum es fuͤr recht hielten, ſie zu haben. Wir wollen jezt nicht unterſuchen, wie weit dieſes wahr ſey; aber ſo yiel iſt gewiß, daß jede Leidenſchaft ge- ſchwinder entſteht, und auf eine groͤßere Hoͤhe ſteigt, wenn wir durch den Gedanken von Un- rechtmaͤßigkeir oder von Thorheit nicht zuruͤck gehalten werden. Der freywillige Entſchluß der Seele geſellt ſich bey Leidenſchaften, die wir bil- ligen, zu dem unfreywilligen Eindrucke der Ge- genſtaͤnde; und dieſe vereinigte Kraft unſrer ſelbſt und des Dinges macht alſo die Wirkung groͤßer. So wie in den Begriffen von der Moralitaͤt etwas Feſtes und Unwandelbares, und etwas Veraͤnderliches und Willkuͤhrliches iſt; ſo werden auch die Leidenſchaften, welche man billiget, zum Theil bey allen Menſchen dieſelben, zum Theil durch die Verſchiedenheit der Sitten und der Ge- ſeze verſchieden ſeyn.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/336
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/336>, abgerufen am 22.11.2024.