Ueberdieß sind es nur immer Stücke von Begrif- fen, die wir auf diese Weise jedesmal erhalten. Die Augenblicke, wo wir aus den Gesprächen oder den Handlungen der Menschen, mit welchen wir umgehen, etwas Erhebliches von dem Menschen überhaupt lernen könnten, sind selten. Wir müs- sen unser Bischen Weisheit darüber mühsam zu- sammensparen, und bekommen doch oft nichts Brauchbares, nichts recht Ganzes. -- Vom Dich- ter erwarten wir aber, daß er diese Beobachtun- gen besser und vollständiger zu machen Gelegenheit gehabt habe; von ihm fodern wir, daß er sie uns auf einmal und in ganzen Haufen überliefern soll: nicht bloß, indem er seinen Personen die Reflexio- nen selbst in den Mund legt, die er bey dieser, bey jener Gelegenheit mag angestellt haben, und wor- aus seine Kenntniß nach und nach erwachsen ist; sondern vielmehr, indem er seine Personen so han- deln, so reden läßt, daß es uns leicht wird, aus ihnen selbst diese Wahrheiten zu abstrahiren. Er hält uns, so wie die Natur, nur den Stoff zu un- sern Kenntnissen vor; aber die Natur einen rohen,
Einige Gedanken
Ueberdieß ſind es nur immer Stuͤcke von Begrif- fen, die wir auf dieſe Weiſe jedesmal erhalten. Die Augenblicke, wo wir aus den Geſpraͤchen oder den Handlungen der Menſchen, mit welchen wir umgehen, etwas Erhebliches von dem Menſchen uͤberhaupt lernen koͤnnten, ſind ſelten. Wir muͤſ- ſen unſer Bischen Weisheit daruͤber muͤhſam zu- ſammenſparen, und bekommen doch oft nichts Brauchbares, nichts recht Ganzes. — Vom Dich- ter erwarten wir aber, daß er dieſe Beobachtun- gen beſſer und vollſtaͤndiger zu machen Gelegenheit gehabt habe; von ihm fodern wir, daß er ſie uns auf einmal und in ganzen Haufen uͤberliefern ſoll: nicht bloß, indem er ſeinen Perſonen die Reflexio- nen ſelbſt in den Mund legt, die er bey dieſer, bey jener Gelegenheit mag angeſtellt haben, und wor- aus ſeine Kenntniß nach und nach erwachſen iſt; ſondern vielmehr, indem er ſeine Perſonen ſo han- deln, ſo reden laͤßt, daß es uns leicht wird, aus ihnen ſelbſt dieſe Wahrheiten zu abſtrahiren. Er haͤlt uns, ſo wie die Natur, nur den Stoff zu un- ſern Kenntniſſen vor; aber die Natur einen rohen,
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Einige Gedanken
Ueberdieß ſind es nur immer Stuͤcke von Begrif-
fen, die wir auf dieſe Weiſe jedesmal erhalten.
Die Augenblicke, wo wir aus den Geſpraͤchen oder
den Handlungen der Menſchen, mit welchen wir
umgehen, etwas Erhebliches von dem Menſchen
uͤberhaupt lernen koͤnnten, ſind ſelten. Wir muͤſ-
ſen unſer Bischen Weisheit daruͤber muͤhſam zu-
ſammenſparen, und bekommen doch oft nichts
Brauchbares, nichts recht Ganzes. — Vom Dich-
ter erwarten wir aber, daß er dieſe Beobachtun-
gen beſſer und vollſtaͤndiger zu machen Gelegenheit
gehabt habe; von ihm fodern wir, daß er ſie uns
auf einmal und in ganzen Haufen uͤberliefern ſoll:
nicht bloß, indem er ſeinen Perſonen die Reflexio-
nen ſelbſt in den Mund legt, die er bey dieſer, bey
jener Gelegenheit mag angeſtellt haben, und wor-
aus ſeine Kenntniß nach und nach erwachſen iſt;
ſondern vielmehr, indem er ſeine Perſonen ſo han-
deln, ſo reden laͤßt, daß es uns leicht wird, aus
ihnen ſelbſt dieſe Wahrheiten zu abſtrahiren. Er
haͤlt uns, ſo wie die Natur, nur den Stoff zu un-
ſern Kenntniſſen vor; aber die Natur einen rohen,
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/302>, abgerufen am 16.02.2025.
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