Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Einige Gedanken
es unsern Dichtern nicht oft genug wiederholen,
daß es nicht bloß durch Leidenschaften möglich ist
zu interessiren; daß sie durch diese nur selten, und
immer nur Augenblicke lang interessiren; daß es
nur allein der Reichthum der Vorstellung, die
Wichtigkeit und die Menge dessen, was sie uns
zu denken geben, seyn kann, was uns bey einem
größern Werke vom Anfange bis zu Ende geschäf-
tig, aufmerksam und befriedigt erhalte. Das
rührendste Drama erregt bey dem empfindlichsten
Zuschauer immer nur Blitze der Empfindung.
Auf einen Augenblick, wo man getäuscht wird,
folgt eine weit längere Zeit, wo man wieder sich
und die Schauspieler für das erkennt, was sie
sind. Für einen Vorfall, für eine Rede, die un-
mittelbar Leidenschaft erregt, giebt es hundert,
die nur Vorstellungen erwecken. -- Das Ver-
gnügen, Mitleiden und Schrecken zu empfinden,
genießt man also nur in einzelnen und kurzen
Stellen eines Trauerspiels. Aber das Vergnü-
gen, Menschen von einem unterscheidenden Cha-
rakter, einem gebildeten Geiste, feinen Sitten, ei-

Einige Gedanken
es unſern Dichtern nicht oft genug wiederholen,
daß es nicht bloß durch Leidenſchaften moͤglich iſt
zu intereſſiren; daß ſie durch dieſe nur ſelten, und
immer nur Augenblicke lang intereſſiren; daß es
nur allein der Reichthum der Vorſtellung, die
Wichtigkeit und die Menge deſſen, was ſie uns
zu denken geben, ſeyn kann, was uns bey einem
groͤßern Werke vom Anfange bis zu Ende geſchaͤf-
tig, aufmerkſam und befriedigt erhalte. Das
ruͤhrendſte Drama erregt bey dem empfindlichſten
Zuſchauer immer nur Blitze der Empfindung.
Auf einen Augenblick, wo man getaͤuſcht wird,
folgt eine weit laͤngere Zeit, wo man wieder ſich
und die Schauſpieler fuͤr das erkennt, was ſie
ſind. Fuͤr einen Vorfall, fuͤr eine Rede, die un-
mittelbar Leidenſchaft erregt, giebt es hundert,
die nur Vorſtellungen erwecken. — Das Ver-
gnuͤgen, Mitleiden und Schrecken zu empfinden,
genießt man alſo nur in einzelnen und kurzen
Stellen eines Trauerſpiels. Aber das Vergnuͤ-
gen, Menſchen von einem unterſcheidenden Cha-
rakter, einem gebildeten Geiſte, feinen Sitten, ei-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0270" n="264"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Einige Gedanken</hi></fw><lb/>
es un&#x017F;ern Dichtern nicht oft genug wiederholen,<lb/>
daß es nicht bloß durch Leiden&#x017F;chaften mo&#x0364;glich i&#x017F;t<lb/>
zu intere&#x017F;&#x017F;iren; daß &#x017F;ie durch die&#x017F;e nur &#x017F;elten, und<lb/>
immer nur Augenblicke lang intere&#x017F;&#x017F;iren; daß es<lb/>
nur allein der Reichthum der Vor&#x017F;tellung, die<lb/>
Wichtigkeit und die Menge de&#x017F;&#x017F;en, was &#x017F;ie uns<lb/>
zu denken geben, &#x017F;eyn kann, was uns bey einem<lb/>
gro&#x0364;ßern Werke vom Anfange bis zu Ende ge&#x017F;cha&#x0364;f-<lb/>
tig, aufmerk&#x017F;am und befriedigt erhalte. Das<lb/>
ru&#x0364;hrend&#x017F;te Drama erregt bey dem empfindlich&#x017F;ten<lb/>
Zu&#x017F;chauer immer nur Blitze der Empfindung.<lb/>
Auf einen Augenblick, wo man geta&#x0364;u&#x017F;cht wird,<lb/>
folgt eine weit la&#x0364;ngere Zeit, wo man wieder &#x017F;ich<lb/>
und die Schau&#x017F;pieler fu&#x0364;r das erkennt, was &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ind. Fu&#x0364;r <hi rendition="#fr">einen</hi> Vorfall, fu&#x0364;r <hi rendition="#fr">eine</hi> Rede, die un-<lb/>
mittelbar Leiden&#x017F;chaft erregt, giebt es hundert,<lb/>
die nur Vor&#x017F;tellungen erwecken. &#x2014; Das Ver-<lb/>
gnu&#x0364;gen, Mitleiden und Schrecken zu empfinden,<lb/>
genießt man al&#x017F;o nur in einzelnen und kurzen<lb/>
Stellen eines Trauer&#x017F;piels. Aber das Vergnu&#x0364;-<lb/>
gen, Men&#x017F;chen von einem unter&#x017F;cheidenden Cha-<lb/>
rakter, einem gebildeten Gei&#x017F;te, feinen Sitten, ei-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[264/0270] Einige Gedanken es unſern Dichtern nicht oft genug wiederholen, daß es nicht bloß durch Leidenſchaften moͤglich iſt zu intereſſiren; daß ſie durch dieſe nur ſelten, und immer nur Augenblicke lang intereſſiren; daß es nur allein der Reichthum der Vorſtellung, die Wichtigkeit und die Menge deſſen, was ſie uns zu denken geben, ſeyn kann, was uns bey einem groͤßern Werke vom Anfange bis zu Ende geſchaͤf- tig, aufmerkſam und befriedigt erhalte. Das ruͤhrendſte Drama erregt bey dem empfindlichſten Zuſchauer immer nur Blitze der Empfindung. Auf einen Augenblick, wo man getaͤuſcht wird, folgt eine weit laͤngere Zeit, wo man wieder ſich und die Schauſpieler fuͤr das erkennt, was ſie ſind. Fuͤr einen Vorfall, fuͤr eine Rede, die un- mittelbar Leidenſchaft erregt, giebt es hundert, die nur Vorſtellungen erwecken. — Das Ver- gnuͤgen, Mitleiden und Schrecken zu empfinden, genießt man alſo nur in einzelnen und kurzen Stellen eines Trauerſpiels. Aber das Vergnuͤ- gen, Menſchen von einem unterſcheidenden Cha- rakter, einem gebildeten Geiſte, feinen Sitten, ei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/270
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/270>, abgerufen am 23.11.2024.