Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Anmerkungen über Gellerts Moral,
oder zum Beweise der folgenden angewandt wer-
den, so ist dieß ein System. Denn die wichtig-
sten Pflichten sind entweder ausdrücklich, oder bey
Gelegenheit abgehandelt, die allgemeinen Grund-
sätze sind vorausgeschickt, die besondern Tugen-
den aus diesen Grundsätzen hergeleitet.

Wenn der Leser, welcher den Schriftsteller
kennt, ihn selbst handeln gesehen, ihn reden ge-
hört hat, wenn ein solcher Leser überhaupt die
Schriften des Mannes besser versteht; wenn er
sich viele Stellen durch die Geberde desselben,
durch seine Mienen, durch sein ganzes Betragen
besser zu erklären weiß, oder sie rührender und
eindringender findet, so muß es bey dieser Moral
vorzüglich statt finden. In der That sehen wir
bey gewissen Stellen das Bild dieses ehrwürdigen
Mannes wieder vor uns; wir denken uns sein
leidendes aber liebreiches Gesicht, wir hören den
Ton seiner Stimme, wir erklären, wir verstärken
uns alles, was wir lesen, indem wir uns das
hinzudenken, was seine Worte nicht auszudrücken
vermochten, was aber in seiner ganzen Person,

Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
oder zum Beweiſe der folgenden angewandt wer-
den, ſo iſt dieß ein Syſtem. Denn die wichtig-
ſten Pflichten ſind entweder ausdruͤcklich, oder bey
Gelegenheit abgehandelt, die allgemeinen Grund-
ſaͤtze ſind vorausgeſchickt, die beſondern Tugen-
den aus dieſen Grundſaͤtzen hergeleitet.

Wenn der Leſer, welcher den Schriftſteller
kennt, ihn ſelbſt handeln geſehen, ihn reden ge-
hoͤrt hat, wenn ein ſolcher Leſer uͤberhaupt die
Schriften des Mannes beſſer verſteht; wenn er
ſich viele Stellen durch die Geberde deſſelben,
durch ſeine Mienen, durch ſein ganzes Betragen
beſſer zu erklaͤren weiß, oder ſie ruͤhrender und
eindringender findet, ſo muß es bey dieſer Moral
vorzuͤglich ſtatt finden. In der That ſehen wir
bey gewiſſen Stellen das Bild dieſes ehrwuͤrdigen
Mannes wieder vor uns; wir denken uns ſein
leidendes aber liebreiches Geſicht, wir hoͤren den
Ton ſeiner Stimme, wir erklaͤren, wir verſtaͤrken
uns alles, was wir leſen, indem wir uns das
hinzudenken, was ſeine Worte nicht auszudruͤcken
vermochten, was aber in ſeiner ganzen Perſon,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0206" n="200"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Anmerkungen u&#x0364;ber Gellerts Moral,</hi></fw><lb/>
oder zum Bewei&#x017F;e der folgenden angewandt wer-<lb/>
den, &#x017F;o i&#x017F;t dieß ein Sy&#x017F;tem. Denn die wichtig-<lb/>
&#x017F;ten Pflichten &#x017F;ind entweder ausdru&#x0364;cklich, oder bey<lb/>
Gelegenheit abgehandelt, die allgemeinen Grund-<lb/>
&#x017F;a&#x0364;tze &#x017F;ind vorausge&#x017F;chickt, die be&#x017F;ondern Tugen-<lb/>
den aus die&#x017F;en Grund&#x017F;a&#x0364;tzen hergeleitet.</p><lb/>
        <p>Wenn der Le&#x017F;er, welcher den Schrift&#x017F;teller<lb/>
kennt, ihn &#x017F;elb&#x017F;t handeln ge&#x017F;ehen, ihn reden ge-<lb/>
ho&#x0364;rt hat, wenn ein &#x017F;olcher Le&#x017F;er u&#x0364;berhaupt die<lb/>
Schriften des Mannes be&#x017F;&#x017F;er ver&#x017F;teht; wenn er<lb/>
&#x017F;ich viele Stellen durch die Geberde de&#x017F;&#x017F;elben,<lb/>
durch &#x017F;eine Mienen, durch &#x017F;ein ganzes Betragen<lb/>
be&#x017F;&#x017F;er zu erkla&#x0364;ren weiß, oder &#x017F;ie ru&#x0364;hrender und<lb/>
eindringender findet, &#x017F;o muß es bey die&#x017F;er Moral<lb/>
vorzu&#x0364;glich &#x017F;tatt finden. In der That &#x017F;ehen wir<lb/>
bey gewi&#x017F;&#x017F;en Stellen das Bild die&#x017F;es ehrwu&#x0364;rdigen<lb/>
Mannes wieder vor uns; wir denken uns &#x017F;ein<lb/>
leidendes aber liebreiches Ge&#x017F;icht, wir ho&#x0364;ren den<lb/>
Ton &#x017F;einer Stimme, wir erkla&#x0364;ren, wir ver&#x017F;ta&#x0364;rken<lb/>
uns alles, was wir le&#x017F;en, indem wir uns das<lb/>
hinzudenken, was &#x017F;eine Worte nicht auszudru&#x0364;cken<lb/>
vermochten, was aber in &#x017F;einer ganzen Per&#x017F;on,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[200/0206] Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, oder zum Beweiſe der folgenden angewandt wer- den, ſo iſt dieß ein Syſtem. Denn die wichtig- ſten Pflichten ſind entweder ausdruͤcklich, oder bey Gelegenheit abgehandelt, die allgemeinen Grund- ſaͤtze ſind vorausgeſchickt, die beſondern Tugen- den aus dieſen Grundſaͤtzen hergeleitet. Wenn der Leſer, welcher den Schriftſteller kennt, ihn ſelbſt handeln geſehen, ihn reden ge- hoͤrt hat, wenn ein ſolcher Leſer uͤberhaupt die Schriften des Mannes beſſer verſteht; wenn er ſich viele Stellen durch die Geberde deſſelben, durch ſeine Mienen, durch ſein ganzes Betragen beſſer zu erklaͤren weiß, oder ſie ruͤhrender und eindringender findet, ſo muß es bey dieſer Moral vorzuͤglich ſtatt finden. In der That ſehen wir bey gewiſſen Stellen das Bild dieſes ehrwuͤrdigen Mannes wieder vor uns; wir denken uns ſein leidendes aber liebreiches Geſicht, wir hoͤren den Ton ſeiner Stimme, wir erklaͤren, wir verſtaͤrken uns alles, was wir leſen, indem wir uns das hinzudenken, was ſeine Worte nicht auszudruͤcken vermochten, was aber in ſeiner ganzen Perſon,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/206
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/206>, abgerufen am 24.11.2024.