Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

der ältesten und neuern Schriftsteller.
sich, ob die Sache genau immer so sey, wie sie sie
vorstellen? ob es nicht oft eben so viel Ausnah-
men als Fälle gebe, die unter die Regeln passen?
ob nicht etwas von der Wahrheit habe verschwie-
gen oder verfälscht werden müssen, um die Vor-
stellung stark und neu zu machen?

Diese vorsetzliche Unwahrheit in den Gedan-
ken, die ihren Ausdruck reizender macht, wür-
de ich zu einem unterscheidenden Charakter der
Neuen machen, und hingegen das Matte und
wie es scheint Kraftlose im Ausdrucke, mit einer
genauen Wahrheit verbunden, zum Charakter der
Alten.

Wenn zum erstenmal ein beobachtender Geist
eine Verbindung der Dinge, eine gewisse Folge
von Ursachen und Wirkungen, eine Aehnlichkeit
oder Verschiedenheit unter den Gegenständen, ge-
wisse Regeln in den Operationen des Menschen
und der Natur entdeckt hatte: so war die Neu-
heit dieser Erfindung schon genug, den Ausdruck
auffallend und stark zu machen. Ich begreife
recht wohl, warum gemeine Gedanken, Senten-

der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
ſich, ob die Sache genau immer ſo ſey, wie ſie ſie
vorſtellen? ob es nicht oft eben ſo viel Ausnah-
men als Faͤlle gebe, die unter die Regeln paſſen?
ob nicht etwas von der Wahrheit habe verſchwie-
gen oder verfaͤlſcht werden muͤſſen, um die Vor-
ſtellung ſtark und neu zu machen?

Dieſe vorſetzliche Unwahrheit in den Gedan-
ken, die ihren Ausdruck reizender macht, wuͤr-
de ich zu einem unterſcheidenden Charakter der
Neuen machen, und hingegen das Matte und
wie es ſcheint Kraftloſe im Ausdrucke, mit einer
genauen Wahrheit verbunden, zum Charakter der
Alten.

Wenn zum erſtenmal ein beobachtender Geiſt
eine Verbindung der Dinge, eine gewiſſe Folge
von Urſachen und Wirkungen, eine Aehnlichkeit
oder Verſchiedenheit unter den Gegenſtaͤnden, ge-
wiſſe Regeln in den Operationen des Menſchen
und der Natur entdeckt hatte: ſo war die Neu-
heit dieſer Erfindung ſchon genug, den Ausdruck
auffallend und ſtark zu machen. Ich begreife
recht wohl, warum gemeine Gedanken, Senten-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0195" n="189"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der a&#x0364;lte&#x017F;ten und neuern Schrift&#x017F;teller.</hi></fw><lb/>
&#x017F;ich, ob die Sache genau immer &#x017F;o &#x017F;ey, wie &#x017F;ie &#x017F;ie<lb/>
vor&#x017F;tellen? ob es nicht oft eben &#x017F;o viel Ausnah-<lb/>
men als Fa&#x0364;lle gebe, die unter die Regeln pa&#x017F;&#x017F;en?<lb/>
ob nicht etwas von der Wahrheit habe ver&#x017F;chwie-<lb/>
gen oder verfa&#x0364;l&#x017F;cht werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, um die Vor-<lb/>
&#x017F;tellung &#x017F;tark und neu zu machen?</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;e vor&#x017F;etzliche Unwahrheit in den Gedan-<lb/>
ken, die ihren Ausdruck reizender macht, wu&#x0364;r-<lb/>
de ich zu einem unter&#x017F;cheidenden Charakter der<lb/>
Neuen machen, und hingegen das Matte und<lb/>
wie es &#x017F;cheint Kraftlo&#x017F;e im Ausdrucke, mit einer<lb/>
genauen Wahrheit verbunden, zum Charakter der<lb/>
Alten.</p><lb/>
        <p>Wenn zum er&#x017F;tenmal ein beobachtender Gei&#x017F;t<lb/>
eine Verbindung der Dinge, eine gewi&#x017F;&#x017F;e Folge<lb/>
von Ur&#x017F;achen und Wirkungen, eine Aehnlichkeit<lb/>
oder Ver&#x017F;chiedenheit unter den Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden, ge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;e Regeln in den Operationen des Men&#x017F;chen<lb/>
und der Natur entdeckt hatte: &#x017F;o war die Neu-<lb/>
heit die&#x017F;er Erfindung &#x017F;chon genug, den Ausdruck<lb/>
auffallend und &#x017F;tark zu machen. Ich begreife<lb/>
recht wohl, warum gemeine Gedanken, Senten-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[189/0195] der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. ſich, ob die Sache genau immer ſo ſey, wie ſie ſie vorſtellen? ob es nicht oft eben ſo viel Ausnah- men als Faͤlle gebe, die unter die Regeln paſſen? ob nicht etwas von der Wahrheit habe verſchwie- gen oder verfaͤlſcht werden muͤſſen, um die Vor- ſtellung ſtark und neu zu machen? Dieſe vorſetzliche Unwahrheit in den Gedan- ken, die ihren Ausdruck reizender macht, wuͤr- de ich zu einem unterſcheidenden Charakter der Neuen machen, und hingegen das Matte und wie es ſcheint Kraftloſe im Ausdrucke, mit einer genauen Wahrheit verbunden, zum Charakter der Alten. Wenn zum erſtenmal ein beobachtender Geiſt eine Verbindung der Dinge, eine gewiſſe Folge von Urſachen und Wirkungen, eine Aehnlichkeit oder Verſchiedenheit unter den Gegenſtaͤnden, ge- wiſſe Regeln in den Operationen des Menſchen und der Natur entdeckt hatte: ſo war die Neu- heit dieſer Erfindung ſchon genug, den Ausdruck auffallend und ſtark zu machen. Ich begreife recht wohl, warum gemeine Gedanken, Senten-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/195
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/195>, abgerufen am 23.11.2024.