die Erdichtungen oder selbst die Geschichten, die die Dichter bearbeiten, können auf uns keine an- dere Beziehung haben, als die ihnen zukommen, in so fern es menschliche Begebenheiten sind; wir müssen also nothwendig von einer andern Seite den Eindruck verstärken, der ihnen von der einen abgeht. Unser Verstand und unser Herz sind dem Vergnügen verschlossen, das dem Griechen die Thaten seiner ältesten Helden, durch seine ältesten Weisen beschrieben, machen mußten; aber beide stehen immer noch dem Vergnügen offen, das mannichfaltige und lebhafte Ideen oder gesell- schaftliche Neigungen in ihnen erregen. Unser Dichter muß nothwendig mehr Absichten sich vor- setzen, als sein Werk unmittelbar ankündigt.
Bey der Bildung unserer neuen Dichtkunst ist ein Streit von entgegenwirkenden Ursachen merk- lich. Durch die Bewunderung, die man für die Alten hatte, wurde man zu der Nachahmung der- selben gezogen, man suchte, so viel man konnte, sich in ihre Zeit und Umstände zu versetzen, ihre Denkungsart anzunehmen, und sah die Aehnlich-
Verſchiedenheiten in den Werken
die Erdichtungen oder ſelbſt die Geſchichten, die die Dichter bearbeiten, koͤnnen auf uns keine an- dere Beziehung haben, als die ihnen zukommen, in ſo fern es menſchliche Begebenheiten ſind; wir muͤſſen alſo nothwendig von einer andern Seite den Eindruck verſtaͤrken, der ihnen von der einen abgeht. Unſer Verſtand und unſer Herz ſind dem Vergnuͤgen verſchloſſen, das dem Griechen die Thaten ſeiner aͤlteſten Helden, durch ſeine aͤlteſten Weiſen beſchrieben, machen mußten; aber beide ſtehen immer noch dem Vergnuͤgen offen, das mannichfaltige und lebhafte Ideen oder geſell- ſchaftliche Neigungen in ihnen erregen. Unſer Dichter muß nothwendig mehr Abſichten ſich vor- ſetzen, als ſein Werk unmittelbar ankuͤndigt.
Bey der Bildung unſerer neuen Dichtkunſt iſt ein Streit von entgegenwirkenden Urſachen merk- lich. Durch die Bewunderung, die man fuͤr die Alten hatte, wurde man zu der Nachahmung der- ſelben gezogen, man ſuchte, ſo viel man konnte, ſich in ihre Zeit und Umſtaͤnde zu verſetzen, ihre Denkungsart anzunehmen, und ſah die Aehnlich-
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Verſchiedenheiten in den Werken
die Erdichtungen oder ſelbſt die Geſchichten, die
die Dichter bearbeiten, koͤnnen auf uns keine an-
dere Beziehung haben, als die ihnen zukommen,
in ſo fern es menſchliche Begebenheiten ſind; wir
muͤſſen alſo nothwendig von einer andern Seite
den Eindruck verſtaͤrken, der ihnen von der einen
abgeht. Unſer Verſtand und unſer Herz ſind
dem Vergnuͤgen verſchloſſen, das dem Griechen die
Thaten ſeiner aͤlteſten Helden, durch ſeine aͤlteſten
Weiſen beſchrieben, machen mußten; aber beide
ſtehen immer noch dem Vergnuͤgen offen, das
mannichfaltige und lebhafte Ideen oder geſell-
ſchaftliche Neigungen in ihnen erregen. Unſer
Dichter muß nothwendig mehr Abſichten ſich vor-
ſetzen, als ſein Werk unmittelbar ankuͤndigt.
Bey der Bildung unſerer neuen Dichtkunſt iſt
ein Streit von entgegenwirkenden Urſachen merk-
lich. Durch die Bewunderung, die man fuͤr die
Alten hatte, wurde man zu der Nachahmung der-
ſelben gezogen, man ſuchte, ſo viel man konnte,
ſich in ihre Zeit und Umſtaͤnde zu verſetzen, ihre
Denkungsart anzunehmen, und ſah die Aehnlich-
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/190>, abgerufen am 22.07.2024.
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