Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite
Verschiedenheiten in den Werken

Nämlich derjenige Theil der Dinge, der der
Empfindung nicht unmittelbar offen liegt, der
erst durch eine Reihe von Beobachtungen und
Schlüssen aus ihnen gefunden werden muß, wird
da genauer erkannt, wo nicht jeder Mensch mit
seinen Erkenntnissen immer von vorne anfangen,
und alle die ersten einfachsten Erfahrungen wieder
durchwandern muß, sondern wo er bey seinem
Eintritte in die Gesellschaft das Resultat von den
Erfahrungen seiner Vorfahren concentrirt erhält,
und von diesen nunmehr ausgehen kann. Die
ältesten Menschen sponnen sich so zu sagen den
ganzen Faden ihrer Ideen selbst: sie kannten ihn
deswegen genau, er war völlig ihre, aber weit
fortgesezt war er nicht. Izt bekömmt jeder
Mensch durch Ueberlieferung und Unterricht schon
ein ganzes Gewebe von Ideen in die Hand, das
er selbst noch nicht übersehen kann, das er indeß
als einen unbekannten Schatz verwahret, bis er
es nach und nach bey Gelegenheit aus einander
wickelt. -- Und alsdann erst, wenn er damit
fertig ist, dasjenige, was er von fremden Gedan-

Verſchiedenheiten in den Werken

Naͤmlich derjenige Theil der Dinge, der der
Empfindung nicht unmittelbar offen liegt, der
erſt durch eine Reihe von Beobachtungen und
Schluͤſſen aus ihnen gefunden werden muß, wird
da genauer erkannt, wo nicht jeder Menſch mit
ſeinen Erkenntniſſen immer von vorne anfangen,
und alle die erſten einfachſten Erfahrungen wieder
durchwandern muß, ſondern wo er bey ſeinem
Eintritte in die Geſellſchaft das Reſultat von den
Erfahrungen ſeiner Vorfahren concentrirt erhaͤlt,
und von dieſen nunmehr ausgehen kann. Die
aͤlteſten Menſchen ſponnen ſich ſo zu ſagen den
ganzen Faden ihrer Ideen ſelbſt: ſie kannten ihn
deswegen genau, er war voͤllig ihre, aber weit
fortgeſezt war er nicht. Izt bekoͤmmt jeder
Menſch durch Ueberlieferung und Unterricht ſchon
ein ganzes Gewebe von Ideen in die Hand, das
er ſelbſt noch nicht uͤberſehen kann, das er indeß
als einen unbekannten Schatz verwahret, bis er
es nach und nach bey Gelegenheit aus einander
wickelt. — Und alsdann erſt, wenn er damit
fertig iſt, dasjenige, was er von fremden Gedan-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0174" n="168"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Ver&#x017F;chiedenheiten in den Werken</hi> </fw><lb/>
        <p>Na&#x0364;mlich derjenige Theil der Dinge, der der<lb/>
Empfindung nicht unmittelbar offen liegt, der<lb/>
er&#x017F;t durch eine Reihe von Beobachtungen und<lb/>
Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en aus ihnen gefunden werden muß, wird<lb/>
da genauer erkannt, wo nicht jeder Men&#x017F;ch mit<lb/>
&#x017F;einen Erkenntni&#x017F;&#x017F;en immer von vorne anfangen,<lb/>
und alle die er&#x017F;ten einfach&#x017F;ten Erfahrungen wieder<lb/>
durchwandern muß, &#x017F;ondern wo er bey &#x017F;einem<lb/>
Eintritte in die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft das Re&#x017F;ultat von den<lb/>
Erfahrungen &#x017F;einer Vorfahren concentrirt erha&#x0364;lt,<lb/>
und von die&#x017F;en nunmehr ausgehen kann. Die<lb/>
a&#x0364;lte&#x017F;ten Men&#x017F;chen &#x017F;ponnen &#x017F;ich &#x017F;o zu &#x017F;agen den<lb/>
ganzen Faden ihrer Ideen &#x017F;elb&#x017F;t: &#x017F;ie kannten ihn<lb/>
deswegen genau, er war vo&#x0364;llig ihre, aber weit<lb/>
fortge&#x017F;ezt war er nicht. Izt beko&#x0364;mmt jeder<lb/>
Men&#x017F;ch durch Ueberlieferung und Unterricht &#x017F;chon<lb/>
ein ganzes Gewebe von Ideen in die Hand, das<lb/>
er &#x017F;elb&#x017F;t noch nicht u&#x0364;ber&#x017F;ehen kann, das er indeß<lb/>
als einen unbekannten Schatz verwahret, bis er<lb/>
es nach und nach bey Gelegenheit aus einander<lb/>
wickelt. &#x2014; Und alsdann er&#x017F;t, wenn er damit<lb/>
fertig i&#x017F;t, dasjenige, was er von fremden Gedan-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[168/0174] Verſchiedenheiten in den Werken Naͤmlich derjenige Theil der Dinge, der der Empfindung nicht unmittelbar offen liegt, der erſt durch eine Reihe von Beobachtungen und Schluͤſſen aus ihnen gefunden werden muß, wird da genauer erkannt, wo nicht jeder Menſch mit ſeinen Erkenntniſſen immer von vorne anfangen, und alle die erſten einfachſten Erfahrungen wieder durchwandern muß, ſondern wo er bey ſeinem Eintritte in die Geſellſchaft das Reſultat von den Erfahrungen ſeiner Vorfahren concentrirt erhaͤlt, und von dieſen nunmehr ausgehen kann. Die aͤlteſten Menſchen ſponnen ſich ſo zu ſagen den ganzen Faden ihrer Ideen ſelbſt: ſie kannten ihn deswegen genau, er war voͤllig ihre, aber weit fortgeſezt war er nicht. Izt bekoͤmmt jeder Menſch durch Ueberlieferung und Unterricht ſchon ein ganzes Gewebe von Ideen in die Hand, das er ſelbſt noch nicht uͤberſehen kann, das er indeß als einen unbekannten Schatz verwahret, bis er es nach und nach bey Gelegenheit aus einander wickelt. — Und alsdann erſt, wenn er damit fertig iſt, dasjenige, was er von fremden Gedan-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/174
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/174>, abgerufen am 23.11.2024.