Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

der ältesten und neuern Schriftsteller.
die Philosophie hat uns Möglichkeiten gewiesen,
wo wir auch noch keine Beyspiele haben, und wir,
die wir izt so spät kommen, haben eben dadurch,
daß uns so viele Muster zum Nachahmen überlie-
fert worden, den Vortheil erlangt, daß es uns
leichter wird, mitten unter der Nachahmung noch
etwas von dem Eignen unsers Kopfes und Her-
zens zu behalten.

So erhält der menschliche Geist in seinem wei-
testen Fortgange auf einige Art das Recht wieder,
was er bey seinen frühesten Versuchen gehabt hat-
te. Die ersten Genies waren Originale gewisser-
maßen aus Nothwendigkeit. Was hätten sie
anders seyn sollen, da sie die ersten waren? Die
nachfolgenden waren viele Jahrhunderte durch,
aus Trägheit und aus Bewunderung, ihre Nach-
ahmer. Dieser Einfluß würde vielleicht nicht so
lange und so merklich fortgedauert haben, wenn
nicht Zwischenzeiten von Unwissenheit und Barba-
rey den menschlichen Geist auf seiner Laufbahn
aufgehalten, oder ihn beynahe wieder ganz bis
an die Schranken zurückgebracht hätten. Und

L 3

der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
die Philoſophie hat uns Moͤglichkeiten gewieſen,
wo wir auch noch keine Beyſpiele haben, und wir,
die wir izt ſo ſpaͤt kommen, haben eben dadurch,
daß uns ſo viele Muſter zum Nachahmen uͤberlie-
fert worden, den Vortheil erlangt, daß es uns
leichter wird, mitten unter der Nachahmung noch
etwas von dem Eignen unſers Kopfes und Her-
zens zu behalten.

So erhaͤlt der menſchliche Geiſt in ſeinem wei-
teſten Fortgange auf einige Art das Recht wieder,
was er bey ſeinen fruͤheſten Verſuchen gehabt hat-
te. Die erſten Genies waren Originale gewiſſer-
maßen aus Nothwendigkeit. Was haͤtten ſie
anders ſeyn ſollen, da ſie die erſten waren? Die
nachfolgenden waren viele Jahrhunderte durch,
aus Traͤgheit und aus Bewunderung, ihre Nach-
ahmer. Dieſer Einfluß wuͤrde vielleicht nicht ſo
lange und ſo merklich fortgedauert haben, wenn
nicht Zwiſchenzeiten von Unwiſſenheit und Barba-
rey den menſchlichen Geiſt auf ſeiner Laufbahn
aufgehalten, oder ihn beynahe wieder ganz bis
an die Schranken zuruͤckgebracht haͤtten. Und

L 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0171" n="165"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der a&#x0364;lte&#x017F;ten und neuern Schrift&#x017F;teller.</hi></fw><lb/>
die Philo&#x017F;ophie hat uns Mo&#x0364;glichkeiten gewie&#x017F;en,<lb/>
wo wir auch noch keine Bey&#x017F;piele haben, und wir,<lb/>
die wir izt &#x017F;o &#x017F;pa&#x0364;t kommen, haben eben dadurch,<lb/>
daß uns &#x017F;o viele Mu&#x017F;ter zum Nachahmen u&#x0364;berlie-<lb/>
fert worden, den Vortheil erlangt, daß es uns<lb/>
leichter wird, mitten unter der Nachahmung noch<lb/>
etwas von dem Eignen un&#x017F;ers Kopfes und Her-<lb/>
zens zu behalten.</p><lb/>
        <p>So erha&#x0364;lt der men&#x017F;chliche Gei&#x017F;t in &#x017F;einem wei-<lb/>
te&#x017F;ten Fortgange auf einige Art das Recht wieder,<lb/>
was er bey &#x017F;einen fru&#x0364;he&#x017F;ten Ver&#x017F;uchen gehabt hat-<lb/>
te. Die er&#x017F;ten Genies waren Originale gewi&#x017F;&#x017F;er-<lb/>
maßen aus Nothwendigkeit. Was ha&#x0364;tten &#x017F;ie<lb/>
anders &#x017F;eyn &#x017F;ollen, da &#x017F;ie die er&#x017F;ten waren? Die<lb/>
nachfolgenden waren viele Jahrhunderte durch,<lb/>
aus Tra&#x0364;gheit und aus Bewunderung, ihre Nach-<lb/>
ahmer. Die&#x017F;er Einfluß wu&#x0364;rde vielleicht nicht &#x017F;o<lb/>
lange und &#x017F;o merklich fortgedauert haben, wenn<lb/>
nicht Zwi&#x017F;chenzeiten von Unwi&#x017F;&#x017F;enheit und Barba-<lb/>
rey den men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;t auf &#x017F;einer Laufbahn<lb/>
aufgehalten, oder ihn beynahe wieder ganz bis<lb/>
an die Schranken zuru&#x0364;ckgebracht ha&#x0364;tten. Und<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L 3</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[165/0171] der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. die Philoſophie hat uns Moͤglichkeiten gewieſen, wo wir auch noch keine Beyſpiele haben, und wir, die wir izt ſo ſpaͤt kommen, haben eben dadurch, daß uns ſo viele Muſter zum Nachahmen uͤberlie- fert worden, den Vortheil erlangt, daß es uns leichter wird, mitten unter der Nachahmung noch etwas von dem Eignen unſers Kopfes und Her- zens zu behalten. So erhaͤlt der menſchliche Geiſt in ſeinem wei- teſten Fortgange auf einige Art das Recht wieder, was er bey ſeinen fruͤheſten Verſuchen gehabt hat- te. Die erſten Genies waren Originale gewiſſer- maßen aus Nothwendigkeit. Was haͤtten ſie anders ſeyn ſollen, da ſie die erſten waren? Die nachfolgenden waren viele Jahrhunderte durch, aus Traͤgheit und aus Bewunderung, ihre Nach- ahmer. Dieſer Einfluß wuͤrde vielleicht nicht ſo lange und ſo merklich fortgedauert haben, wenn nicht Zwiſchenzeiten von Unwiſſenheit und Barba- rey den menſchlichen Geiſt auf ſeiner Laufbahn aufgehalten, oder ihn beynahe wieder ganz bis an die Schranken zuruͤckgebracht haͤtten. Und L 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/171
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/171>, abgerufen am 24.11.2024.