Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite
§. 114.

Wie unterscheiden sich aber der unnütze und der
schädliche vom heilsamen? -- Freylich wäre es kein ge-
ringer Vortheil, wenn man ein Merkmal festsetzen
könnte, woraus sich mit einiger Gewißheit erkennen
ließ, wo man den Begierden des Kranken nachgeben,
oder sie verwerfen müsse. Allein ich bin's überzeugt,
daß wir noch viel weiter davon entfernt sind, als
man glaubt. -- Sims will aus Erfahrungen behaup-
ten, daß man diesem Verlangen vor der Abnahme
der Krankheit niemals wiederstehen dürfe; hingegen
seye es bedenklich nach der Nachlassung, und sobald
sich eine Veränderung zur Besserung eingestellt habe,
besonders, wenn sich der Puls dem natürlichen nä-
hert, es seye denn, daß das Verlangen ausserordent-
lich heftig sey, und der Kranke bey der verweigerten
Erfüllung desselben den Muth zu verlieren scheine.
Er versichert, daß fünfzig unter solchen aufkommen
für einen, der stirbt. Vogel sucht dieses in seinem
Handb. d. prakt. Arz. also zu erklären: "Je mehr sich
der Kranke seiner bewußt ist, je mehr Lebhaftigkeit
die Empfindungen seines Magens nach gebrochener
Krankheit wieder erhalten, und je emsiger die Natur
nun sucht, den Verlust der Kräfte, der festen und
flüssigen Theile baldigst wieder zu ersetzen; desto leich-
ter wird der Patient, bey der grossen Wahl von
Speisen und Getränken, auf Dinge, und vielmals
auf diejenigen besonders verfallen, die er in gesunden
Tagen am liebsten genaß, welche nun aber der Schwach-
heit seiner Danungskräfte, der Reitzbarkeit seines

Ma-
§. 114.

Wie unterſcheiden ſich aber der unnuͤtze und der
ſchaͤdliche vom heilſamen? — Freylich waͤre es kein ge-
ringer Vortheil, wenn man ein Merkmal feſtſetzen
koͤnnte, woraus ſich mit einiger Gewißheit erkennen
ließ, wo man den Begierden des Kranken nachgeben,
oder ſie verwerfen muͤſſe. Allein ich bin’s uͤberzeugt,
daß wir noch viel weiter davon entfernt ſind, als
man glaubt. — Sims will aus Erfahrungen behaup-
ten, daß man dieſem Verlangen vor der Abnahme
der Krankheit niemals wiederſtehen duͤrfe; hingegen
ſeye es bedenklich nach der Nachlaſſung, und ſobald
ſich eine Veraͤnderung zur Beſſerung eingeſtellt habe,
beſonders, wenn ſich der Puls dem natuͤrlichen naͤ-
hert, es ſeye denn, daß das Verlangen auſſerordent-
lich heftig ſey, und der Kranke bey der verweigerten
Erfuͤllung deſſelben den Muth zu verlieren ſcheine.
Er verſichert, daß fuͤnfzig unter ſolchen aufkommen
fuͤr einen, der ſtirbt. Vogel ſucht dieſes in ſeinem
Handb. d. prakt. Arz. alſo zu erklaͤren: „Je mehr ſich
der Kranke ſeiner bewußt iſt, je mehr Lebhaftigkeit
die Empfindungen ſeines Magens nach gebrochener
Krankheit wieder erhalten, und je emſiger die Natur
nun ſucht, den Verluſt der Kraͤfte, der feſten und
fluͤſſigen Theile baldigſt wieder zu erſetzen; deſto leich-
ter wird der Patient, bey der groſſen Wahl von
Speiſen und Getraͤnken, auf Dinge, und vielmals
auf diejenigen beſonders verfallen, die er in geſunden
Tagen am liebſten genaß, welche nun aber der Schwach-
heit ſeiner Danungskraͤfte, der Reitzbarkeit ſeines

Ma-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0689" n="670"/>
            <div n="4">
              <head>§. 114.</head><lb/>
              <p>Wie unter&#x017F;cheiden &#x017F;ich aber der unnu&#x0364;tze und der<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;dliche vom heil&#x017F;amen? &#x2014; Freylich wa&#x0364;re es kein ge-<lb/>
ringer Vortheil, wenn man ein Merkmal fe&#x017F;t&#x017F;etzen<lb/>
ko&#x0364;nnte, woraus &#x017F;ich mit einiger Gewißheit erkennen<lb/>
ließ, wo man den Begierden des Kranken nachgeben,<lb/>
oder &#x017F;ie verwerfen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e. Allein ich bin&#x2019;s u&#x0364;berzeugt,<lb/>
daß wir noch viel weiter davon entfernt &#x017F;ind, als<lb/>
man glaubt. &#x2014; <hi rendition="#fr">Sims</hi> will aus Erfahrungen behaup-<lb/>
ten, daß man die&#x017F;em Verlangen vor der Abnahme<lb/>
der Krankheit niemals wieder&#x017F;tehen du&#x0364;rfe; hingegen<lb/>
&#x017F;eye es bedenklich nach der Nachla&#x017F;&#x017F;ung, und &#x017F;obald<lb/>
&#x017F;ich eine Vera&#x0364;nderung zur Be&#x017F;&#x017F;erung einge&#x017F;tellt habe,<lb/>
be&#x017F;onders, wenn &#x017F;ich der Puls dem natu&#x0364;rlichen na&#x0364;-<lb/>
hert, es &#x017F;eye denn, daß das Verlangen au&#x017F;&#x017F;erordent-<lb/>
lich heftig &#x017F;ey, und der Kranke bey der verweigerten<lb/>
Erfu&#x0364;llung de&#x017F;&#x017F;elben den Muth zu verlieren &#x017F;cheine.<lb/>
Er ver&#x017F;ichert, daß fu&#x0364;nfzig unter &#x017F;olchen aufkommen<lb/>
fu&#x0364;r einen, der &#x017F;tirbt. <hi rendition="#fr">Vogel</hi> &#x017F;ucht die&#x017F;es in &#x017F;einem<lb/>
Handb. d. prakt. Arz. al&#x017F;o zu erkla&#x0364;ren: &#x201E;Je mehr &#x017F;ich<lb/>
der Kranke &#x017F;einer bewußt i&#x017F;t, je mehr Lebhaftigkeit<lb/>
die Empfindungen &#x017F;eines Magens nach gebrochener<lb/>
Krankheit wieder erhalten, und je em&#x017F;iger die Natur<lb/>
nun &#x017F;ucht, den Verlu&#x017F;t der Kra&#x0364;fte, der fe&#x017F;ten und<lb/>
flu&#x0364;&#x017F;&#x017F;igen Theile baldig&#x017F;t wieder zu er&#x017F;etzen; de&#x017F;to leich-<lb/>
ter wird der Patient, bey der gro&#x017F;&#x017F;en Wahl von<lb/>
Spei&#x017F;en und Getra&#x0364;nken, auf Dinge, und vielmals<lb/>
auf diejenigen be&#x017F;onders verfallen, die er in ge&#x017F;unden<lb/>
Tagen am lieb&#x017F;ten genaß, welche nun aber der Schwach-<lb/>
heit &#x017F;einer Danungskra&#x0364;fte, der Reitzbarkeit &#x017F;eines<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Ma-</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[670/0689] §. 114. Wie unterſcheiden ſich aber der unnuͤtze und der ſchaͤdliche vom heilſamen? — Freylich waͤre es kein ge- ringer Vortheil, wenn man ein Merkmal feſtſetzen koͤnnte, woraus ſich mit einiger Gewißheit erkennen ließ, wo man den Begierden des Kranken nachgeben, oder ſie verwerfen muͤſſe. Allein ich bin’s uͤberzeugt, daß wir noch viel weiter davon entfernt ſind, als man glaubt. — Sims will aus Erfahrungen behaup- ten, daß man dieſem Verlangen vor der Abnahme der Krankheit niemals wiederſtehen duͤrfe; hingegen ſeye es bedenklich nach der Nachlaſſung, und ſobald ſich eine Veraͤnderung zur Beſſerung eingeſtellt habe, beſonders, wenn ſich der Puls dem natuͤrlichen naͤ- hert, es ſeye denn, daß das Verlangen auſſerordent- lich heftig ſey, und der Kranke bey der verweigerten Erfuͤllung deſſelben den Muth zu verlieren ſcheine. Er verſichert, daß fuͤnfzig unter ſolchen aufkommen fuͤr einen, der ſtirbt. Vogel ſucht dieſes in ſeinem Handb. d. prakt. Arz. alſo zu erklaͤren: „Je mehr ſich der Kranke ſeiner bewußt iſt, je mehr Lebhaftigkeit die Empfindungen ſeines Magens nach gebrochener Krankheit wieder erhalten, und je emſiger die Natur nun ſucht, den Verluſt der Kraͤfte, der feſten und fluͤſſigen Theile baldigſt wieder zu erſetzen; deſto leich- ter wird der Patient, bey der groſſen Wahl von Speiſen und Getraͤnken, auf Dinge, und vielmals auf diejenigen beſonders verfallen, die er in geſunden Tagen am liebſten genaß, welche nun aber der Schwach- heit ſeiner Danungskraͤfte, der Reitzbarkeit ſeines Ma-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der erste Band von Franz Joseph Galls "Philosophi… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/689
Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 670. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/689>, abgerufen am 13.11.2024.