Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

dere, in welchem die Reitzbarkeit wieder hergestellt
wird. Eine schon lange Zeit übel beschaffne Frau
litt durch unmäßigen Beyschlaf einen Umschlag (abor-
tum)
und dabey einen so häufigen Blutverlust, daß öf-
tere und schreckliche Ohnmachten hinzukamen, die Glied-
massen kalt, der Aderschlag schnell, geschwind und äus-
serst schwach wurden. Die Kranke gähnte und dehnte
sich unaufhörlich und schien unter Zuckungen zu sterben.
Ich verordnete die Zimmttinktur, Wein mit Zucker
in reichlichen Gaben. Bald wurde das Gähnen selt-
ner, der Körper und die Glieder warm; die Gebähr-
mutter, die unterdessen wie ein welker Sack im Leibe
lag, und das Blut wie aus einem Schlauche ergoß,
zog sich wieder in eine harte Kugel zusammen; die
Ohnmachten setzten länger aus, und waren weniger
schreckbar. Hätte ich nun mit den nämlichen Mitteln
in der nämlichen Gabe fortgefahren, so würde ich zu-
verläßig Entzündung und Brand verursacht haben,
da sie bisher nöthig waren, um die Lähmung der fe-
sten und die Stockung der flüssigen Theile zu heben.
So bald in Nervenfiebern die Reitzbarkeit wieder her-
gestellt ist, so werden die Sinne durch starke Gaben
Mohnsaft oder geistiger Getränke betäubt, da sie hin-
gegen zuvor die stärksten Gaben vertrugen. Es ist
also unvernünftig, wenn man durch den glücklichen
Erfolg seiner Bestrebungen in verzweifelten Fällen
aufgemuntert, die ersten Regungen des Lebens mit
verdoppelten Kräften ferner zu erwecken sucht. Die
schwache Lebenskraft kann dem heftigen Reitze nicht ge-
nügsame Gegenwirkung leisten, und sie unterliegt un-

ter

dere, in welchem die Reitzbarkeit wieder hergeſtellt
wird. Eine ſchon lange Zeit uͤbel beſchaffne Frau
litt durch unmaͤßigen Beyſchlaf einen Umſchlag (abor-
tum)
und dabey einen ſo haͤufigen Blutverluſt, daß oͤf-
tere und ſchreckliche Ohnmachten hinzukamen, die Glied-
maſſen kalt, der Aderſchlag ſchnell, geſchwind und aͤuſ-
ſerſt ſchwach wurden. Die Kranke gaͤhnte und dehnte
ſich unaufhoͤrlich und ſchien unter Zuckungen zu ſterben.
Ich verordnete die Zimmttinktur, Wein mit Zucker
in reichlichen Gaben. Bald wurde das Gaͤhnen ſelt-
ner, der Koͤrper und die Glieder warm; die Gebaͤhr-
mutter, die unterdeſſen wie ein welker Sack im Leibe
lag, und das Blut wie aus einem Schlauche ergoß,
zog ſich wieder in eine harte Kugel zuſammen; die
Ohnmachten ſetzten laͤnger aus, und waren weniger
ſchreckbar. Haͤtte ich nun mit den naͤmlichen Mitteln
in der naͤmlichen Gabe fortgefahren, ſo wuͤrde ich zu-
verlaͤßig Entzuͤndung und Brand verurſacht haben,
da ſie bisher noͤthig waren, um die Laͤhmung der fe-
ſten und die Stockung der fluͤſſigen Theile zu heben.
So bald in Nervenfiebern die Reitzbarkeit wieder her-
geſtellt iſt, ſo werden die Sinne durch ſtarke Gaben
Mohnſaft oder geiſtiger Getraͤnke betaͤubt, da ſie hin-
gegen zuvor die ſtaͤrkſten Gaben vertrugen. Es iſt
alſo unvernuͤnftig, wenn man durch den gluͤcklichen
Erfolg ſeiner Beſtrebungen in verzweifelten Faͤllen
aufgemuntert, die erſten Regungen des Lebens mit
verdoppelten Kraͤften ferner zu erwecken ſucht. Die
ſchwache Lebenskraft kann dem heftigen Reitze nicht ge-
nuͤgſame Gegenwirkung leiſten, und ſie unterliegt un-

ter
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0587" n="568"/>
dere, in welchem die Reitzbarkeit wieder herge&#x017F;tellt<lb/>
wird. Eine &#x017F;chon lange Zeit u&#x0364;bel be&#x017F;chaffne Frau<lb/>
litt durch unma&#x0364;ßigen Bey&#x017F;chlaf einen Um&#x017F;chlag <hi rendition="#aq">(abor-<lb/>
tum)</hi> und dabey einen &#x017F;o ha&#x0364;ufigen Blutverlu&#x017F;t, daß o&#x0364;f-<lb/>
tere und &#x017F;chreckliche Ohnmachten hinzukamen, die Glied-<lb/>
ma&#x017F;&#x017F;en kalt, der Ader&#x017F;chlag &#x017F;chnell, ge&#x017F;chwind und a&#x0364;u&#x017F;-<lb/>
&#x017F;er&#x017F;t &#x017F;chwach wurden. Die Kranke ga&#x0364;hnte und dehnte<lb/>
&#x017F;ich unaufho&#x0364;rlich und &#x017F;chien unter Zuckungen zu &#x017F;terben.<lb/>
Ich verordnete die Zimmttinktur, Wein mit Zucker<lb/>
in reichlichen Gaben. Bald wurde das Ga&#x0364;hnen &#x017F;elt-<lb/>
ner, der Ko&#x0364;rper und die Glieder warm; die Geba&#x0364;hr-<lb/>
mutter, die unterde&#x017F;&#x017F;en wie ein welker Sack im Leibe<lb/>
lag, und das Blut wie aus einem Schlauche ergoß,<lb/>
zog &#x017F;ich wieder in eine harte Kugel zu&#x017F;ammen; die<lb/>
Ohnmachten &#x017F;etzten la&#x0364;nger aus, und waren weniger<lb/>
&#x017F;chreckbar. Ha&#x0364;tte ich nun mit den na&#x0364;mlichen Mitteln<lb/>
in der na&#x0364;mlichen Gabe fortgefahren, &#x017F;o wu&#x0364;rde ich zu-<lb/>
verla&#x0364;ßig Entzu&#x0364;ndung und Brand verur&#x017F;acht haben,<lb/>
da &#x017F;ie bisher no&#x0364;thig waren, um die La&#x0364;hmung der fe-<lb/>
&#x017F;ten und die Stockung der flu&#x0364;&#x017F;&#x017F;igen Theile zu heben.<lb/>
So bald in Nervenfiebern die Reitzbarkeit wieder her-<lb/>
ge&#x017F;tellt i&#x017F;t, &#x017F;o werden die Sinne durch &#x017F;tarke Gaben<lb/>
Mohn&#x017F;aft oder gei&#x017F;tiger Getra&#x0364;nke beta&#x0364;ubt, da &#x017F;ie hin-<lb/>
gegen zuvor die &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;ten Gaben vertrugen. Es i&#x017F;t<lb/>
al&#x017F;o unvernu&#x0364;nftig, wenn man durch den glu&#x0364;cklichen<lb/>
Erfolg &#x017F;einer Be&#x017F;trebungen in verzweifelten Fa&#x0364;llen<lb/>
aufgemuntert, die er&#x017F;ten Regungen des Lebens mit<lb/>
verdoppelten Kra&#x0364;ften ferner zu erwecken &#x017F;ucht. Die<lb/>
&#x017F;chwache Lebenskraft kann dem heftigen Reitze nicht ge-<lb/>
nu&#x0364;g&#x017F;ame Gegenwirkung lei&#x017F;ten, und &#x017F;ie unterliegt un-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ter</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[568/0587] dere, in welchem die Reitzbarkeit wieder hergeſtellt wird. Eine ſchon lange Zeit uͤbel beſchaffne Frau litt durch unmaͤßigen Beyſchlaf einen Umſchlag (abor- tum) und dabey einen ſo haͤufigen Blutverluſt, daß oͤf- tere und ſchreckliche Ohnmachten hinzukamen, die Glied- maſſen kalt, der Aderſchlag ſchnell, geſchwind und aͤuſ- ſerſt ſchwach wurden. Die Kranke gaͤhnte und dehnte ſich unaufhoͤrlich und ſchien unter Zuckungen zu ſterben. Ich verordnete die Zimmttinktur, Wein mit Zucker in reichlichen Gaben. Bald wurde das Gaͤhnen ſelt- ner, der Koͤrper und die Glieder warm; die Gebaͤhr- mutter, die unterdeſſen wie ein welker Sack im Leibe lag, und das Blut wie aus einem Schlauche ergoß, zog ſich wieder in eine harte Kugel zuſammen; die Ohnmachten ſetzten laͤnger aus, und waren weniger ſchreckbar. Haͤtte ich nun mit den naͤmlichen Mitteln in der naͤmlichen Gabe fortgefahren, ſo wuͤrde ich zu- verlaͤßig Entzuͤndung und Brand verurſacht haben, da ſie bisher noͤthig waren, um die Laͤhmung der fe- ſten und die Stockung der fluͤſſigen Theile zu heben. So bald in Nervenfiebern die Reitzbarkeit wieder her- geſtellt iſt, ſo werden die Sinne durch ſtarke Gaben Mohnſaft oder geiſtiger Getraͤnke betaͤubt, da ſie hin- gegen zuvor die ſtaͤrkſten Gaben vertrugen. Es iſt alſo unvernuͤnftig, wenn man durch den gluͤcklichen Erfolg ſeiner Beſtrebungen in verzweifelten Faͤllen aufgemuntert, die erſten Regungen des Lebens mit verdoppelten Kraͤften ferner zu erwecken ſucht. Die ſchwache Lebenskraft kann dem heftigen Reitze nicht ge- nuͤgſame Gegenwirkung leiſten, und ſie unterliegt un- ter

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der erste Band von Franz Joseph Galls "Philosophi… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/587
Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 568. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/587>, abgerufen am 24.11.2024.