Krankheiten bewußt sind, besonders in langwierigen Gebrechen äusserst sparsam zu einer gewaltsamen Heil- art entschliessen mögten? Es ist gleich gefehlt, die Natur, wenn sie heimlich oder offenbar wirksam ist, von ihrem Weege ableiten, oder sie, ehe sie etwas bewirken kann, unnützer Weise anspornen; und es ist oft das größte Verdienst, bey all ihren Unterneh- mungen den müßigen Zuschauer zu machen. Baillou setzte daher ein so großes Vertrauen auf die Natur, daß er von ihr in wenig Tagen mehr erwartete, als der Arzt mit allen seinen Anordnungen ausrichten kann. Denn, obschon die heilsamen Hilfsmittel der Kunst hoch zu schätzen sind, so sind doch die Hilfsmittel der Natur nicht weniger schätzbar. "Es werden dadurch, sagt Tulpius, zuweilen Kranke gerettet, welche sich ausser den Grenzen der menschlichen Hilfe befinden. Die Natur läßt nichts unversucht, ehe das edle Werk des menschlichen Körpers zerstöhrt wird. Ist der Weeg nach oben zu verschlossen, so bahnt sie sich einen Weeg nach unten zu; findet sie hier gleiche Hindernisse, so sucht sie seitwärts einen Ausweeg. Sie schlägt zur Rettung des Menschen alle möglichen Weege ein."
Wenn es nun übrigens noch wahr ist, daß die Heilungen der Natur die angemessendsten, und bey günstigen Umständen und gehöriger Unterstützung die vollkommensten sind; so sollte sich jeder ausübende Arzt das grosse Gesetz tief in die Seele graben: Ohne sehr wichtigen Beweggrund kein Uebel unmittelbar anzugreifen; sondern nur die Natur fähig zu machen, dasselbe einenmächtig zu heben.
Zwey-
Krankheiten bewußt ſind, beſonders in langwierigen Gebrechen aͤuſſerſt ſparſam zu einer gewaltſamen Heil- art entſchlieſſen moͤgten? Es iſt gleich gefehlt, die Natur, wenn ſie heimlich oder offenbar wirkſam iſt, von ihrem Weege ableiten, oder ſie, ehe ſie etwas bewirken kann, unnuͤtzer Weiſe anſpornen; und es iſt oft das groͤßte Verdienſt, bey all ihren Unterneh- mungen den muͤßigen Zuſchauer zu machen. Baillou ſetzte daher ein ſo großes Vertrauen auf die Natur, daß er von ihr in wenig Tagen mehr erwartete, als der Arzt mit allen ſeinen Anordnungen ausrichten kann. Denn, obſchon die heilſamen Hilfsmittel der Kunſt hoch zu ſchaͤtzen ſind, ſo ſind doch die Hilfsmittel der Natur nicht weniger ſchaͤtzbar. „Es werden dadurch, ſagt Tulpius, zuweilen Kranke gerettet, welche ſich auſſer den Grenzen der menſchlichen Hilfe befinden. Die Natur laͤßt nichts unverſucht, ehe das edle Werk des menſchlichen Koͤrpers zerſtoͤhrt wird. Iſt der Weeg nach oben zu verſchloſſen, ſo bahnt ſie ſich einen Weeg nach unten zu; findet ſie hier gleiche Hinderniſſe, ſo ſucht ſie ſeitwaͤrts einen Ausweeg. Sie ſchlaͤgt zur Rettung des Menſchen alle moͤglichen Weege ein.„
Wenn es nun uͤbrigens noch wahr iſt, daß die Heilungen der Natur die angemeſſendſten, und bey guͤnſtigen Umſtaͤnden und gehoͤriger Unterſtuͤtzung die vollkommenſten ſind; ſo ſollte ſich jeder ausuͤbende Arzt das groſſe Geſetz tief in die Seele graben: Ohne ſehr wichtigen Beweggrund kein Uebel unmittelbar anzugreifen; ſondern nur die Natur fähig zu machen, daſſelbe einenmächtig zu heben.
Zwey-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0269"n="250"/>
Krankheiten bewußt ſind, beſonders in langwierigen<lb/>
Gebrechen aͤuſſerſt ſparſam zu einer gewaltſamen Heil-<lb/>
art entſchlieſſen moͤgten? Es iſt gleich gefehlt, die<lb/>
Natur, wenn ſie heimlich oder offenbar wirkſam iſt,<lb/>
von ihrem Weege ableiten, oder ſie, ehe ſie etwas<lb/>
bewirken kann, unnuͤtzer Weiſe anſpornen; und es<lb/>
iſt oft das groͤßte Verdienſt, bey all ihren Unterneh-<lb/>
mungen den muͤßigen Zuſchauer zu machen. <hirendition="#fr">Baillou</hi><lb/>ſetzte daher ein ſo großes Vertrauen auf die Natur,<lb/>
daß er von ihr in wenig Tagen mehr erwartete, als<lb/>
der Arzt mit allen ſeinen Anordnungen ausrichten kann.<lb/>
Denn, obſchon die heilſamen Hilfsmittel der Kunſt<lb/>
hoch zu ſchaͤtzen ſind, ſo ſind doch die Hilfsmittel der<lb/>
Natur nicht weniger ſchaͤtzbar. „Es werden dadurch,<lb/>ſagt <hirendition="#fr">Tulpius</hi>, zuweilen Kranke gerettet, welche ſich<lb/>
auſſer den Grenzen der menſchlichen Hilfe befinden.<lb/>
Die Natur laͤßt nichts unverſucht, ehe das edle Werk<lb/>
des menſchlichen Koͤrpers zerſtoͤhrt wird. Iſt der Weeg<lb/>
nach oben zu verſchloſſen, ſo bahnt ſie ſich einen Weeg<lb/>
nach unten zu; findet ſie hier gleiche Hinderniſſe, ſo<lb/>ſucht ſie ſeitwaͤrts einen Ausweeg. Sie ſchlaͤgt zur<lb/>
Rettung des Menſchen alle moͤglichen Weege ein.„</p><lb/><p>Wenn es nun uͤbrigens noch wahr iſt, daß die<lb/>
Heilungen der Natur die angemeſſendſten, und bey<lb/>
guͤnſtigen Umſtaͤnden und gehoͤriger Unterſtuͤtzung die<lb/>
vollkommenſten ſind; ſo ſollte ſich jeder ausuͤbende Arzt<lb/>
das groſſe Geſetz tief in die Seele graben: <hirendition="#fr">Ohne ſehr<lb/>
wichtigen Beweggrund kein Uebel unmittelbar<lb/>
anzugreifen; ſondern nur die Natur fähig zu<lb/>
machen, daſſelbe einenmächtig zu heben</hi>.</p></div></div></div><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Zwey-</fw><lb/></div></body></text></TEI>
[250/0269]
Krankheiten bewußt ſind, beſonders in langwierigen
Gebrechen aͤuſſerſt ſparſam zu einer gewaltſamen Heil-
art entſchlieſſen moͤgten? Es iſt gleich gefehlt, die
Natur, wenn ſie heimlich oder offenbar wirkſam iſt,
von ihrem Weege ableiten, oder ſie, ehe ſie etwas
bewirken kann, unnuͤtzer Weiſe anſpornen; und es
iſt oft das groͤßte Verdienſt, bey all ihren Unterneh-
mungen den muͤßigen Zuſchauer zu machen. Baillou
ſetzte daher ein ſo großes Vertrauen auf die Natur,
daß er von ihr in wenig Tagen mehr erwartete, als
der Arzt mit allen ſeinen Anordnungen ausrichten kann.
Denn, obſchon die heilſamen Hilfsmittel der Kunſt
hoch zu ſchaͤtzen ſind, ſo ſind doch die Hilfsmittel der
Natur nicht weniger ſchaͤtzbar. „Es werden dadurch,
ſagt Tulpius, zuweilen Kranke gerettet, welche ſich
auſſer den Grenzen der menſchlichen Hilfe befinden.
Die Natur laͤßt nichts unverſucht, ehe das edle Werk
des menſchlichen Koͤrpers zerſtoͤhrt wird. Iſt der Weeg
nach oben zu verſchloſſen, ſo bahnt ſie ſich einen Weeg
nach unten zu; findet ſie hier gleiche Hinderniſſe, ſo
ſucht ſie ſeitwaͤrts einen Ausweeg. Sie ſchlaͤgt zur
Rettung des Menſchen alle moͤglichen Weege ein.„
Wenn es nun uͤbrigens noch wahr iſt, daß die
Heilungen der Natur die angemeſſendſten, und bey
guͤnſtigen Umſtaͤnden und gehoͤriger Unterſtuͤtzung die
vollkommenſten ſind; ſo ſollte ſich jeder ausuͤbende Arzt
das groſſe Geſetz tief in die Seele graben: Ohne ſehr
wichtigen Beweggrund kein Uebel unmittelbar
anzugreifen; ſondern nur die Natur fähig zu
machen, daſſelbe einenmächtig zu heben.
Zwey-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/269>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.