Vorstellungen von Mördern, Räubern Gefängnissen etc. Nach langem fruchtlosem und ermattendem Bestreben, ihre Freyheit zu erhalten, nehmen sie ihre Zuflucht zur Verstellung, werden sanftmüthig, flehen ihre besten Freunde sehnlichst um Befreyung. -- Dieser gewalt- same Seelenzustand, nebst den schreckvollen Vorstel- lungen, und das heftige Bestreben des Körpers müs- sen nothwendig vieles zur Verschlimmerung der Krank- heit beytragen; man sollte also nur in ganz unver- meidlichen Fällen zu diesem Verfahren schreiten
Die Aerzte begnügen sich in diesen Fällen mit den allgemeinen Ausdrücken: Der Kranke sprach irre, rasete u. s w. Aber ich lobe die Philosophen, wel- che sich über die Seltenheit solcher genau aufgezeichne- ten Geschichten beschweren. Den Nutzen für die See- lenkenntniß sollte doch ein Arzt einsehen -- und daß eine genauere, pünktliche Beobachtung auf die Art und den Gang des Irreseyns auch in Rücksicht der Heil- art gar nicht gleichgültig seye, werde ich in der Fol- ge, öfters zu zeigen, Gelegenheit haben.
Sonderbar, und vielleicht mehr aus den Ge- setzen der Gewohnheit und der Fertigkeiten, als aus einer thätigen Einwirkung der Seele erklärbar, sind jene Geistesverirrungen, wobey der Mensch nur über diejenigen Dinge, die er vorzüglich betrieben hat, richtig zu urtheilen im Stande ist.
Ein Arzt, der sich vorzüglich auf die Scheide- kunst verlegte, wurde wahnsinnig, und er bethete un- aufhörlich. So oft man ihm von einem Gegenstand aus der Scheidekunst sprach, gab er die vernünftig-
sten
Vorſtellungen von Moͤrdern, Raͤubern Gefaͤngniſſen ꝛc. Nach langem fruchtloſem und ermattendem Beſtreben, ihre Freyheit zu erhalten, nehmen ſie ihre Zuflucht zur Verſtellung, werden ſanftmuͤthig, flehen ihre beſten Freunde ſehnlichſt um Befreyung. — Dieſer gewalt- ſame Seelenzuſtand, nebſt den ſchreckvollen Vorſtel- lungen, und das heftige Beſtreben des Koͤrpers muͤſ- ſen nothwendig vieles zur Verſchlimmerung der Krank- heit beytragen; man ſollte alſo nur in ganz unver- meidlichen Faͤllen zu dieſem Verfahren ſchreiten
Die Aerzte begnuͤgen ſich in dieſen Faͤllen mit den allgemeinen Ausdruͤcken: Der Kranke ſprach irre, raſete u. ſ w. Aber ich lobe die Philoſophen, wel- che ſich uͤber die Seltenheit ſolcher genau aufgezeichne- ten Geſchichten beſchweren. Den Nutzen fuͤr die See- lenkenntniß ſollte doch ein Arzt einſehen — und daß eine genauere, puͤnktliche Beobachtung auf die Art und den Gang des Irreſeyns auch in Ruͤckſicht der Heil- art gar nicht gleichguͤltig ſeye, werde ich in der Fol- ge, oͤfters zu zeigen, Gelegenheit haben.
Sonderbar, und vielleicht mehr aus den Ge- ſetzen der Gewohnheit und der Fertigkeiten, als aus einer thaͤtigen Einwirkung der Seele erklaͤrbar, ſind jene Geiſtesverirrungen, wobey der Menſch nur uͤber diejenigen Dinge, die er vorzuͤglich betrieben hat, richtig zu urtheilen im Stande iſt.
Ein Arzt, der ſich vorzuͤglich auf die Scheide- kunſt verlegte, wurde wahnſinnig, und er bethete un- aufhoͤrlich. So oft man ihm von einem Gegenſtand aus der Scheidekunſt ſprach, gab er die vernuͤnftig-
ſten
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0215"n="196"/>
Vorſtellungen von Moͤrdern, Raͤubern Gefaͤngniſſen ꝛc.<lb/>
Nach langem fruchtloſem und ermattendem Beſtreben,<lb/>
ihre Freyheit zu erhalten, nehmen ſie ihre Zuflucht zur<lb/>
Verſtellung, werden ſanftmuͤthig, flehen ihre beſten<lb/>
Freunde ſehnlichſt um Befreyung. — Dieſer gewalt-<lb/>ſame Seelenzuſtand, nebſt den ſchreckvollen Vorſtel-<lb/>
lungen, und das heftige Beſtreben des Koͤrpers muͤſ-<lb/>ſen nothwendig vieles zur Verſchlimmerung der Krank-<lb/>
heit beytragen; man ſollte alſo nur in ganz unver-<lb/>
meidlichen Faͤllen zu dieſem Verfahren ſchreiten</p><lb/><p>Die Aerzte begnuͤgen ſich in dieſen Faͤllen mit<lb/>
den allgemeinen Ausdruͤcken: Der Kranke ſprach irre,<lb/>
raſete u. ſ w. Aber ich lobe die Philoſophen, wel-<lb/>
che ſich uͤber die Seltenheit ſolcher genau aufgezeichne-<lb/>
ten Geſchichten beſchweren. Den Nutzen fuͤr die See-<lb/>
lenkenntniß ſollte doch ein Arzt einſehen — und daß<lb/>
eine genauere, puͤnktliche Beobachtung auf die Art und<lb/>
den Gang des Irreſeyns auch in Ruͤckſicht der Heil-<lb/>
art gar nicht gleichguͤltig ſeye, werde ich in der Fol-<lb/>
ge, oͤfters zu zeigen, Gelegenheit haben.</p><lb/><p>Sonderbar, und vielleicht mehr aus den Ge-<lb/>ſetzen der Gewohnheit und der Fertigkeiten, als aus<lb/>
einer thaͤtigen Einwirkung der Seele erklaͤrbar, ſind<lb/>
jene Geiſtesverirrungen, wobey der Menſch nur uͤber<lb/>
diejenigen Dinge, die er vorzuͤglich betrieben hat,<lb/>
richtig zu urtheilen im Stande iſt.</p><lb/><p>Ein Arzt, der ſich vorzuͤglich auf die Scheide-<lb/>
kunſt verlegte, wurde wahnſinnig, und er bethete un-<lb/>
aufhoͤrlich. So oft man ihm von einem Gegenſtand<lb/>
aus der Scheidekunſt ſprach, gab er die vernuͤnftig-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſten</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[196/0215]
Vorſtellungen von Moͤrdern, Raͤubern Gefaͤngniſſen ꝛc.
Nach langem fruchtloſem und ermattendem Beſtreben,
ihre Freyheit zu erhalten, nehmen ſie ihre Zuflucht zur
Verſtellung, werden ſanftmuͤthig, flehen ihre beſten
Freunde ſehnlichſt um Befreyung. — Dieſer gewalt-
ſame Seelenzuſtand, nebſt den ſchreckvollen Vorſtel-
lungen, und das heftige Beſtreben des Koͤrpers muͤſ-
ſen nothwendig vieles zur Verſchlimmerung der Krank-
heit beytragen; man ſollte alſo nur in ganz unver-
meidlichen Faͤllen zu dieſem Verfahren ſchreiten
Die Aerzte begnuͤgen ſich in dieſen Faͤllen mit
den allgemeinen Ausdruͤcken: Der Kranke ſprach irre,
raſete u. ſ w. Aber ich lobe die Philoſophen, wel-
che ſich uͤber die Seltenheit ſolcher genau aufgezeichne-
ten Geſchichten beſchweren. Den Nutzen fuͤr die See-
lenkenntniß ſollte doch ein Arzt einſehen — und daß
eine genauere, puͤnktliche Beobachtung auf die Art und
den Gang des Irreſeyns auch in Ruͤckſicht der Heil-
art gar nicht gleichguͤltig ſeye, werde ich in der Fol-
ge, oͤfters zu zeigen, Gelegenheit haben.
Sonderbar, und vielleicht mehr aus den Ge-
ſetzen der Gewohnheit und der Fertigkeiten, als aus
einer thaͤtigen Einwirkung der Seele erklaͤrbar, ſind
jene Geiſtesverirrungen, wobey der Menſch nur uͤber
diejenigen Dinge, die er vorzuͤglich betrieben hat,
richtig zu urtheilen im Stande iſt.
Ein Arzt, der ſich vorzuͤglich auf die Scheide-
kunſt verlegte, wurde wahnſinnig, und er bethete un-
aufhoͤrlich. So oft man ihm von einem Gegenſtand
aus der Scheidekunſt ſprach, gab er die vernuͤnftig-
ſten
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/215>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.