theils noch keiner eigenmächtigen Leitung fähig war. Er muste, so lang er noch nichts durch sich selbst ver- mag, so, wie die niedrigste Thierklasse, alles, was zu seiner Erhaltung und Erziehung gehörte, von der Natur erhalten haben. -- Kaum hat das Kind der Mutter Leib verlassen, so sehen wir es die zu seiner Erhaltung nöthigen, von ihm abhängigen Verrichtun- gen mit bewunderungswürdiger Fertigkeit ausüben. Diese Fertigkeiten, wenn sie schon nicht durch Uibung erworben sind, verdienen nichts destoweniger diesen Na- men, und werden durch den Ausdruck natürliche, an- geborne Kunstfertigkeit hinlänglich bestimmt.
Eine der ersten dieser körperlichen, natürlichen Kunstfertigkeiten ist das Schreien und Weinen. Die- ses ist keine bloße mechanische, sondern größtentheils willkührliche Handlung, die aus einer bald schmerzhaf- ten, bald sonst widrigen Empfindung entspringt, und die Bewegung des Zwergfells, der Lunge, der Brust und al- ler Werkzeuge des Mundes, die von der Willkühr ab- hängen, erfordert. Den Ton, die Stärke, die Dauer u. s. w. des Schreiens und Weinens weiß das Kind genau nach der Art seines Bedürfnisses zu bestimmen. Jede aufmerksame Mutter, mancher Arzt unterscheidet, so wie Ich, jedesmal aus der verschiedenen Beugung und Stärke der Töne, ob das Kind um schmerzhafter Em- pfindungen willen, aus Hunger und Durst, oder aus Bosheit und langer Weile schreie. Das Geschrey des Schmerzens z. B. geht überhaupt aus einem fei- nern, krellern Tone und ist nach Maaße der Kräften und der Schmerzen bald heftig, bald schwach
unruhig,
Gall I. Band H
theils noch keiner eigenmaͤchtigen Leitung faͤhig war. Er muſte, ſo lang er noch nichts durch ſich ſelbſt ver- mag, ſo, wie die niedrigſte Thierklaſſe, alles, was zu ſeiner Erhaltung und Erziehung gehoͤrte, von der Natur erhalten haben. — Kaum hat das Kind der Mutter Leib verlaſſen, ſo ſehen wir es die zu ſeiner Erhaltung noͤthigen, von ihm abhaͤngigen Verrichtun- gen mit bewunderungswuͤrdiger Fertigkeit ausuͤben. Dieſe Fertigkeiten, wenn ſie ſchon nicht durch Uibung erworben ſind, verdienen nichts deſtoweniger dieſen Na- men, und werden durch den Ausdruck natuͤrliche, an- geborne Kunſtfertigkeit hinlaͤnglich beſtimmt.
Eine der erſten dieſer koͤrperlichen, natuͤrlichen Kunſtfertigkeiten iſt das Schreien und Weinen. Die- ſes iſt keine bloße mechaniſche, ſondern groͤßtentheils willkuͤhrliche Handlung, die aus einer bald ſchmerzhaf- ten, bald ſonſt widrigen Empfindung entſpringt, und die Bewegung des Zwergfells, der Lunge, der Bruſt und al- ler Werkzeuge des Mundes, die von der Willkuͤhr ab- haͤngen, erfordert. Den Ton, die Staͤrke, die Dauer u. ſ. w. des Schreiens und Weinens weiß das Kind genau nach der Art ſeines Beduͤrfniſſes zu beſtimmen. Jede aufmerkſame Mutter, mancher Arzt unterſcheidet, ſo wie Ich, jedesmal aus der verſchiedenen Beugung und Staͤrke der Toͤne, ob das Kind um ſchmerzhafter Em- pfindungen willen, aus Hunger und Durſt, oder aus Bosheit und langer Weile ſchreie. Das Geſchrey des Schmerzens z. B. geht uͤberhaupt aus einem fei- nern, krellern Tone und iſt nach Maaße der Kraͤften und der Schmerzen bald heftig, bald ſchwach
unruhig,
Gall I. Band H
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theils noch keiner eigenmaͤchtigen Leitung faͤhig war.
Er muſte, ſo lang er noch nichts durch ſich ſelbſt ver-
mag, ſo, wie die niedrigſte Thierklaſſe, alles, was
zu ſeiner Erhaltung und Erziehung gehoͤrte, von der
Natur erhalten haben. — Kaum hat das Kind der
Mutter Leib verlaſſen, ſo ſehen wir es die zu ſeiner
Erhaltung noͤthigen, von ihm abhaͤngigen Verrichtun-
gen mit bewunderungswuͤrdiger Fertigkeit ausuͤben.
Dieſe Fertigkeiten, wenn ſie ſchon nicht durch Uibung
erworben ſind, verdienen nichts deſtoweniger dieſen Na-
men, und werden durch den Ausdruck natuͤrliche, an-
geborne Kunſtfertigkeit hinlaͤnglich beſtimmt.
Eine der erſten dieſer koͤrperlichen, natuͤrlichen
Kunſtfertigkeiten iſt das Schreien und Weinen. Die-
ſes iſt keine bloße mechaniſche, ſondern groͤßtentheils
willkuͤhrliche Handlung, die aus einer bald ſchmerzhaf-
ten, bald ſonſt widrigen Empfindung entſpringt, und die
Bewegung des Zwergfells, der Lunge, der Bruſt und al-
ler Werkzeuge des Mundes, die von der Willkuͤhr ab-
haͤngen, erfordert. Den Ton, die Staͤrke, die Dauer u.
ſ. w. des Schreiens und Weinens weiß das Kind genau
nach der Art ſeines Beduͤrfniſſes zu beſtimmen. Jede
aufmerkſame Mutter, mancher Arzt unterſcheidet, ſo
wie Ich, jedesmal aus der verſchiedenen Beugung und
Staͤrke der Toͤne, ob das Kind um ſchmerzhafter Em-
pfindungen willen, aus Hunger und Durſt, oder aus
Bosheit und langer Weile ſchreie. Das Geſchrey
des Schmerzens z. B. geht uͤberhaupt aus einem fei-
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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/132>, abgerufen am 22.11.2024.
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