Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Es sieht nicht besonders gut aus. Kurfürstliche Durchlaucht, es sind zu viele Junker unter dem Korn. Lächelnd frug der Fürst, was das heiße? Wir nennen hier auf dem Lande, sagte der Bauer mit unschuldiger Miene, die langen Halme so, die den Kopf hoch tragen und nicht beugen, weil Nichts drin ist. Der Kurfürst lachte so sehr, daß sein ganzer ungeheurer Leibesumfang in zitternde Bewegung gerieth, und gab bei Tafel den neu gelernten Ausdruck aus der Landwirthschaft zum Besten, der natürlich sehr belacht wurde, weil Jeder der Anwesenden sich für eine Ausnahme von der Bauernregel, das heißt, Keiner für einen leeren Kopf hielt. Das ist jetzt alles vorüber, der Bauer fühlt sich nicht mehr als den Liebling des "Herrn". Mit bäuerischer Verdrossenheit und westfälischem Phlegma und religiöser Unduldsamkeit gegen Ketzer und Andersgläubige -- die letztere Eigenschaft geht in unserm ehemaligen Städtchen und jetzigen Dorfe so weit, daß unter den fünfzehnhundert Einwohnern kein einziger Jude leben darf -- liegt er dem sauern Tagwerke ob. Aus dem Schlosse ist eine Damastfabrik geworden, und seinen Hauptbau und seine rechten Flügel hat man abgebrochen -- wie die Wiedertäufer in Münster ihren Feinden Haupt und Hand abschlugen -- um daraus einen großen Gestütestall in der nächsten Stadt zu bauen! Aus dem Park mit den schönen Alleen und Durchsichten ist ein "Busch" geworden, in dessen Dickicht Es sieht nicht besonders gut aus. Kurfürstliche Durchlaucht, es sind zu viele Junker unter dem Korn. Lächelnd frug der Fürst, was das heiße? Wir nennen hier auf dem Lande, sagte der Bauer mit unschuldiger Miene, die langen Halme so, die den Kopf hoch tragen und nicht beugen, weil Nichts drin ist. Der Kurfürst lachte so sehr, daß sein ganzer ungeheurer Leibesumfang in zitternde Bewegung gerieth, und gab bei Tafel den neu gelernten Ausdruck aus der Landwirthschaft zum Besten, der natürlich sehr belacht wurde, weil Jeder der Anwesenden sich für eine Ausnahme von der Bauernregel, das heißt, Keiner für einen leeren Kopf hielt. Das ist jetzt alles vorüber, der Bauer fühlt sich nicht mehr als den Liebling des „Herrn“. Mit bäuerischer Verdrossenheit und westfälischem Phlegma und religiöser Unduldsamkeit gegen Ketzer und Andersgläubige — die letztere Eigenschaft geht in unserm ehemaligen Städtchen und jetzigen Dorfe so weit, daß unter den fünfzehnhundert Einwohnern kein einziger Jude leben darf — liegt er dem sauern Tagwerke ob. Aus dem Schlosse ist eine Damastfabrik geworden, und seinen Hauptbau und seine rechten Flügel hat man abgebrochen — wie die Wiedertäufer in Münster ihren Feinden Haupt und Hand abschlugen — um daraus einen großen Gestütestall in der nächsten Stadt zu bauen! Aus dem Park mit den schönen Alleen und Durchsichten ist ein „Busch“ geworden, in dessen Dickicht <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <pb facs="#f0008"/> <p>Es sieht nicht besonders gut aus. Kurfürstliche Durchlaucht, es sind zu viele Junker unter dem Korn.</p><lb/> <p>Lächelnd frug der Fürst, was das heiße?</p><lb/> <p>Wir nennen hier auf dem Lande, sagte der Bauer mit unschuldiger Miene, die langen Halme so, die den Kopf hoch tragen und nicht beugen, weil Nichts drin ist.</p><lb/> <p>Der Kurfürst lachte so sehr, daß sein ganzer ungeheurer Leibesumfang in zitternde Bewegung gerieth, und gab bei Tafel den neu gelernten Ausdruck aus der Landwirthschaft zum Besten, der natürlich sehr belacht wurde, weil Jeder der Anwesenden sich für eine Ausnahme von der Bauernregel, das heißt, Keiner für einen leeren Kopf hielt.</p><lb/> <p>Das ist jetzt alles vorüber, der Bauer fühlt sich nicht mehr als den Liebling des „Herrn“. Mit bäuerischer Verdrossenheit und westfälischem Phlegma und religiöser Unduldsamkeit gegen Ketzer und Andersgläubige — die letztere Eigenschaft geht in unserm ehemaligen Städtchen und jetzigen Dorfe so weit, daß unter den fünfzehnhundert Einwohnern kein einziger Jude leben darf — liegt er dem sauern Tagwerke ob. Aus dem Schlosse ist eine Damastfabrik geworden, und seinen Hauptbau und seine rechten Flügel hat man abgebrochen — wie die Wiedertäufer in Münster ihren Feinden Haupt und Hand abschlugen — um daraus einen großen Gestütestall in der nächsten Stadt zu bauen! Aus dem Park mit den schönen Alleen und Durchsichten ist ein „Busch“ geworden, in dessen Dickicht<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0008]
Es sieht nicht besonders gut aus. Kurfürstliche Durchlaucht, es sind zu viele Junker unter dem Korn.
Lächelnd frug der Fürst, was das heiße?
Wir nennen hier auf dem Lande, sagte der Bauer mit unschuldiger Miene, die langen Halme so, die den Kopf hoch tragen und nicht beugen, weil Nichts drin ist.
Der Kurfürst lachte so sehr, daß sein ganzer ungeheurer Leibesumfang in zitternde Bewegung gerieth, und gab bei Tafel den neu gelernten Ausdruck aus der Landwirthschaft zum Besten, der natürlich sehr belacht wurde, weil Jeder der Anwesenden sich für eine Ausnahme von der Bauernregel, das heißt, Keiner für einen leeren Kopf hielt.
Das ist jetzt alles vorüber, der Bauer fühlt sich nicht mehr als den Liebling des „Herrn“. Mit bäuerischer Verdrossenheit und westfälischem Phlegma und religiöser Unduldsamkeit gegen Ketzer und Andersgläubige — die letztere Eigenschaft geht in unserm ehemaligen Städtchen und jetzigen Dorfe so weit, daß unter den fünfzehnhundert Einwohnern kein einziger Jude leben darf — liegt er dem sauern Tagwerke ob. Aus dem Schlosse ist eine Damastfabrik geworden, und seinen Hauptbau und seine rechten Flügel hat man abgebrochen — wie die Wiedertäufer in Münster ihren Feinden Haupt und Hand abschlugen — um daraus einen großen Gestütestall in der nächsten Stadt zu bauen! Aus dem Park mit den schönen Alleen und Durchsichten ist ein „Busch“ geworden, in dessen Dickicht
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Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/8>, abgerufen am 27.07.2024. |