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Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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selbst nicht ihr treues Mädchen, ja sogar die alte Tante war zur Kirche, um den Aufzug, wie sie es nannten, zu sehen. Was sollte sie thun? Sie konnte den Knecht, der freilich gutmüthig genug war, um ihretwillen die Kirche und ihre Sehenswürdigkeiten zu verlassen, nicht von dort holen und auch nicht von dort holen lassen, denn er saß neben ihrem Manne, und dann wäre dieser unfehlbar mitgekommen und hätte vielleicht ihr Unternehmen verhindert!

Sie ging zum Stalle. Wie um sie zu grüßen, blickten die jungen Pferde sich nach ihr um. Konnte sie nicht selbst fahren? Wie oft im ersten Jahre ihrer Ehe hatte im Scherze ihr Mann ihr die Zügel gelassen, um ihr Talent zu erproben; und hingen nicht die Geschirre neben den Pferden, hatte sie nicht oft dem Knechte zugeschaut, wie er sie ihnen um den glänzenden Hals gehängt?

Sie entschloß sich rasch, und indem sie ihre zierliche Gestalt auf die Zehen erhob, nahm sie das Lederzeug vom Nagel und warf es den Thieren, die freudig wieherten, über. Dann zog sie eins nach dem andern in den Schober, wo das kleine Wägelchen stand; Alles gelang ihr vortrefflich; sie nahm die Peitsche, und ohne das Haus wieder zu betreten, denn sie fürchtete Jemand zu begegnen, schwang sie sich auf den Sitz, und rasselnd flog der kleine Wagen über den gepflasterten Hof, durch die Straßen des Dorfes, an der Kirche vorbei, in welche alle Menschen sich gedrängt hatten,

selbst nicht ihr treues Mädchen, ja sogar die alte Tante war zur Kirche, um den Aufzug, wie sie es nannten, zu sehen. Was sollte sie thun? Sie konnte den Knecht, der freilich gutmüthig genug war, um ihretwillen die Kirche und ihre Sehenswürdigkeiten zu verlassen, nicht von dort holen und auch nicht von dort holen lassen, denn er saß neben ihrem Manne, und dann wäre dieser unfehlbar mitgekommen und hätte vielleicht ihr Unternehmen verhindert!

Sie ging zum Stalle. Wie um sie zu grüßen, blickten die jungen Pferde sich nach ihr um. Konnte sie nicht selbst fahren? Wie oft im ersten Jahre ihrer Ehe hatte im Scherze ihr Mann ihr die Zügel gelassen, um ihr Talent zu erproben; und hingen nicht die Geschirre neben den Pferden, hatte sie nicht oft dem Knechte zugeschaut, wie er sie ihnen um den glänzenden Hals gehängt?

Sie entschloß sich rasch, und indem sie ihre zierliche Gestalt auf die Zehen erhob, nahm sie das Lederzeug vom Nagel und warf es den Thieren, die freudig wieherten, über. Dann zog sie eins nach dem andern in den Schober, wo das kleine Wägelchen stand; Alles gelang ihr vortrefflich; sie nahm die Peitsche, und ohne das Haus wieder zu betreten, denn sie fürchtete Jemand zu begegnen, schwang sie sich auf den Sitz, und rasselnd flog der kleine Wagen über den gepflasterten Hof, durch die Straßen des Dorfes, an der Kirche vorbei, in welche alle Menschen sich gedrängt hatten,

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[0061] selbst nicht ihr treues Mädchen, ja sogar die alte Tante war zur Kirche, um den Aufzug, wie sie es nannten, zu sehen. Was sollte sie thun? Sie konnte den Knecht, der freilich gutmüthig genug war, um ihretwillen die Kirche und ihre Sehenswürdigkeiten zu verlassen, nicht von dort holen und auch nicht von dort holen lassen, denn er saß neben ihrem Manne, und dann wäre dieser unfehlbar mitgekommen und hätte vielleicht ihr Unternehmen verhindert! Sie ging zum Stalle. Wie um sie zu grüßen, blickten die jungen Pferde sich nach ihr um. Konnte sie nicht selbst fahren? Wie oft im ersten Jahre ihrer Ehe hatte im Scherze ihr Mann ihr die Zügel gelassen, um ihr Talent zu erproben; und hingen nicht die Geschirre neben den Pferden, hatte sie nicht oft dem Knechte zugeschaut, wie er sie ihnen um den glänzenden Hals gehängt? Sie entschloß sich rasch, und indem sie ihre zierliche Gestalt auf die Zehen erhob, nahm sie das Lederzeug vom Nagel und warf es den Thieren, die freudig wieherten, über. Dann zog sie eins nach dem andern in den Schober, wo das kleine Wägelchen stand; Alles gelang ihr vortrefflich; sie nahm die Peitsche, und ohne das Haus wieder zu betreten, denn sie fürchtete Jemand zu begegnen, schwang sie sich auf den Sitz, und rasselnd flog der kleine Wagen über den gepflasterten Hof, durch die Straßen des Dorfes, an der Kirche vorbei, in welche alle Menschen sich gedrängt hatten,

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T15:13:13Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T15:13:13Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/61>, abgerufen am 24.11.2024.