Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.doppelt der Liebe des Gatten bedurft hätte; aber Bernhard grollte ihr, daß sie sein Kind dem Grafen, den er haßte, hingegeben. Und als die arme Frau damals vom Schlosse gekommen war und ihm gesagt hatte, sie habe sich und ihn auf ein Jahr ihres Kindes beraubt um der Armen willen, da wußte er freilich dem Heroismus seiner Frau nichts entgegenzusetzen, er war auch zu gewissenhaft, ihr noch ferner Vorwürfe zu machen, aber er grollte immer fort, und den Verlust des Kindes, den er schmerzlich empfand, ließ er seiner Frau entgelten, die doch noch mehr darunter litt. Die Winterabende, die sie sonst so behaglich verbracht, gingen wie die Tage in melancholischem Schweigen vorüber. Therese, deren weiches weibliches Gemüth nach einem Halt suchte, den ihr sonst die Liebe ihres Mannes in so reichem Maße gewährt, gab sich einer gewissen religiösen Schwärmerei hin, die sonst gar nicht ihrem gesunden Sinne entsprach. Sie ging wenig oder gar nicht aus, denn Jedermann, den sie sah, erzählte ihr noch immer mit verwunderungsvollem Staunen von der plötzlich erwachten Wohlthätigkeitsliebe des Grafen, zu welcher der Bau einer neuen Orgel, die Installirung eines größtentheils von ihm besoldeten Schulmeisters und das Krankenhaus, das im Bau begriffen, neue Beiträge lieferten. Die einzige Nachricht von ihrem Liebling erhielt die arme Mutter noch immer durch ihr treues Dienstmädchen, dem das doppelt der Liebe des Gatten bedurft hätte; aber Bernhard grollte ihr, daß sie sein Kind dem Grafen, den er haßte, hingegeben. Und als die arme Frau damals vom Schlosse gekommen war und ihm gesagt hatte, sie habe sich und ihn auf ein Jahr ihres Kindes beraubt um der Armen willen, da wußte er freilich dem Heroismus seiner Frau nichts entgegenzusetzen, er war auch zu gewissenhaft, ihr noch ferner Vorwürfe zu machen, aber er grollte immer fort, und den Verlust des Kindes, den er schmerzlich empfand, ließ er seiner Frau entgelten, die doch noch mehr darunter litt. Die Winterabende, die sie sonst so behaglich verbracht, gingen wie die Tage in melancholischem Schweigen vorüber. Therese, deren weiches weibliches Gemüth nach einem Halt suchte, den ihr sonst die Liebe ihres Mannes in so reichem Maße gewährt, gab sich einer gewissen religiösen Schwärmerei hin, die sonst gar nicht ihrem gesunden Sinne entsprach. Sie ging wenig oder gar nicht aus, denn Jedermann, den sie sah, erzählte ihr noch immer mit verwunderungsvollem Staunen von der plötzlich erwachten Wohlthätigkeitsliebe des Grafen, zu welcher der Bau einer neuen Orgel, die Installirung eines größtentheils von ihm besoldeten Schulmeisters und das Krankenhaus, das im Bau begriffen, neue Beiträge lieferten. Die einzige Nachricht von ihrem Liebling erhielt die arme Mutter noch immer durch ihr treues Dienstmädchen, dem das <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="6"> <p><pb facs="#f0058"/> doppelt der Liebe des Gatten bedurft hätte; aber Bernhard grollte ihr, daß sie sein Kind dem Grafen, den er haßte, hingegeben.</p><lb/> <p>Und als die arme Frau damals vom Schlosse gekommen war und ihm gesagt hatte, sie habe sich und ihn auf ein Jahr ihres Kindes beraubt um der Armen willen, da wußte er freilich dem Heroismus seiner Frau nichts entgegenzusetzen, er war auch zu gewissenhaft, ihr noch ferner Vorwürfe zu machen, aber er grollte immer fort, und den Verlust des Kindes, den er schmerzlich empfand, ließ er seiner Frau entgelten, die doch noch mehr darunter litt.</p><lb/> <p>Die Winterabende, die sie sonst so behaglich verbracht, gingen wie die Tage in melancholischem Schweigen vorüber. Therese, deren weiches weibliches Gemüth nach einem Halt suchte, den ihr sonst die Liebe ihres Mannes in so reichem Maße gewährt, gab sich einer gewissen religiösen Schwärmerei hin, die sonst gar nicht ihrem gesunden Sinne entsprach. Sie ging wenig oder gar nicht aus, denn Jedermann, den sie sah, erzählte ihr noch immer mit verwunderungsvollem Staunen von der plötzlich erwachten Wohlthätigkeitsliebe des Grafen, zu welcher der Bau einer neuen Orgel, die Installirung eines größtentheils von ihm besoldeten Schulmeisters und das Krankenhaus, das im Bau begriffen, neue Beiträge lieferten. Die einzige Nachricht von ihrem Liebling erhielt die arme Mutter noch immer durch ihr treues Dienstmädchen, dem das<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0058]
doppelt der Liebe des Gatten bedurft hätte; aber Bernhard grollte ihr, daß sie sein Kind dem Grafen, den er haßte, hingegeben.
Und als die arme Frau damals vom Schlosse gekommen war und ihm gesagt hatte, sie habe sich und ihn auf ein Jahr ihres Kindes beraubt um der Armen willen, da wußte er freilich dem Heroismus seiner Frau nichts entgegenzusetzen, er war auch zu gewissenhaft, ihr noch ferner Vorwürfe zu machen, aber er grollte immer fort, und den Verlust des Kindes, den er schmerzlich empfand, ließ er seiner Frau entgelten, die doch noch mehr darunter litt.
Die Winterabende, die sie sonst so behaglich verbracht, gingen wie die Tage in melancholischem Schweigen vorüber. Therese, deren weiches weibliches Gemüth nach einem Halt suchte, den ihr sonst die Liebe ihres Mannes in so reichem Maße gewährt, gab sich einer gewissen religiösen Schwärmerei hin, die sonst gar nicht ihrem gesunden Sinne entsprach. Sie ging wenig oder gar nicht aus, denn Jedermann, den sie sah, erzählte ihr noch immer mit verwunderungsvollem Staunen von der plötzlich erwachten Wohlthätigkeitsliebe des Grafen, zu welcher der Bau einer neuen Orgel, die Installirung eines größtentheils von ihm besoldeten Schulmeisters und das Krankenhaus, das im Bau begriffen, neue Beiträge lieferten. Die einzige Nachricht von ihrem Liebling erhielt die arme Mutter noch immer durch ihr treues Dienstmädchen, dem das
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