Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Seit wann ist Christenthum mit Märtyrerthum synonym? Seit je, sagte die Frau feierlich, seit je! Wer den Namen des Herrn trägt, muß auch wie er für die Menschen sich zum Opfer bringen können! Bernhard schwieg -- wie er bei allen Mittheilungen seiner Frau über ihre Zusammenkunft mit dem Grafen geschwiegen hatte, denn obgleich er ihre Seelengröße einsah und würdigte, verdroß ihn doch die ganze Uebereinkunft im Innersten der Seele, und selbst des Geistlichen Mitwirkung, der freilich im Interesse des Grafen, aber doch durchaus nach seiner priesterlichen Ueberzeugung gehandelt hatte, hielt er für eine bloße Intrigue zu Gunsten der vornehmen Dame. Therese führte ein stilles und freudenloses Leben. Bleich und schweigsam saß sie in ihrem Zimmer; den Leuten, die nach ihrem Kind frugen, und denen sie gesagt, es sei bei ihren Verwandten in Berlin, antwortete sie nur durch ein schmerzliches Lächeln. Um die Landwirthschaft kümmerte sie sich gar nicht mehr, glücklicherweise besorgte die alte Tante das Nothwendigste. Für Arme gab es wenig zu thun, denn des Grafen Wohlthat hatte goldene Früchte getragen, überall wurde er gerühmt, die Zeitungen verkündeten sein Lob, und der König schickte ihm sogar einen Orden! Ein Vierteljahr war qualvoll für die arme Mutter verflossen, da erhielt sie vom Grafen einen Brief; er schrieb: Seit wann ist Christenthum mit Märtyrerthum synonym? Seit je, sagte die Frau feierlich, seit je! Wer den Namen des Herrn trägt, muß auch wie er für die Menschen sich zum Opfer bringen können! Bernhard schwieg — wie er bei allen Mittheilungen seiner Frau über ihre Zusammenkunft mit dem Grafen geschwiegen hatte, denn obgleich er ihre Seelengröße einsah und würdigte, verdroß ihn doch die ganze Uebereinkunft im Innersten der Seele, und selbst des Geistlichen Mitwirkung, der freilich im Interesse des Grafen, aber doch durchaus nach seiner priesterlichen Ueberzeugung gehandelt hatte, hielt er für eine bloße Intrigue zu Gunsten der vornehmen Dame. Therese führte ein stilles und freudenloses Leben. Bleich und schweigsam saß sie in ihrem Zimmer; den Leuten, die nach ihrem Kind frugen, und denen sie gesagt, es sei bei ihren Verwandten in Berlin, antwortete sie nur durch ein schmerzliches Lächeln. Um die Landwirthschaft kümmerte sie sich gar nicht mehr, glücklicherweise besorgte die alte Tante das Nothwendigste. Für Arme gab es wenig zu thun, denn des Grafen Wohlthat hatte goldene Früchte getragen, überall wurde er gerühmt, die Zeitungen verkündeten sein Lob, und der König schickte ihm sogar einen Orden! Ein Vierteljahr war qualvoll für die arme Mutter verflossen, da erhielt sie vom Grafen einen Brief; er schrieb: <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="6"> <pb facs="#f0054"/> <p>Seit wann ist Christenthum mit Märtyrerthum synonym?</p><lb/> <p>Seit je, sagte die Frau feierlich, seit je! Wer den Namen des Herrn trägt, muß auch wie er für die Menschen sich zum Opfer bringen können!</p><lb/> <p>Bernhard schwieg — wie er bei allen Mittheilungen seiner Frau über ihre Zusammenkunft mit dem Grafen geschwiegen hatte, denn obgleich er ihre Seelengröße einsah und würdigte, verdroß ihn doch die ganze Uebereinkunft im Innersten der Seele, und selbst des Geistlichen Mitwirkung, der freilich im Interesse des Grafen, aber doch durchaus nach seiner priesterlichen Ueberzeugung gehandelt hatte, hielt er für eine bloße Intrigue zu Gunsten der vornehmen Dame.</p><lb/> <p>Therese führte ein stilles und freudenloses Leben. Bleich und schweigsam saß sie in ihrem Zimmer; den Leuten, die nach ihrem Kind frugen, und denen sie gesagt, es sei bei ihren Verwandten in Berlin, antwortete sie nur durch ein schmerzliches Lächeln. Um die Landwirthschaft kümmerte sie sich gar nicht mehr, glücklicherweise besorgte die alte Tante das Nothwendigste. Für Arme gab es wenig zu thun, denn des Grafen Wohlthat hatte goldene Früchte getragen, überall wurde er gerühmt, die Zeitungen verkündeten sein Lob, und der König schickte ihm sogar einen Orden!</p><lb/> <p>Ein Vierteljahr war qualvoll für die arme Mutter verflossen, da erhielt sie vom Grafen einen Brief; er schrieb:</p><lb/><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0054]
Seit wann ist Christenthum mit Märtyrerthum synonym?
Seit je, sagte die Frau feierlich, seit je! Wer den Namen des Herrn trägt, muß auch wie er für die Menschen sich zum Opfer bringen können!
Bernhard schwieg — wie er bei allen Mittheilungen seiner Frau über ihre Zusammenkunft mit dem Grafen geschwiegen hatte, denn obgleich er ihre Seelengröße einsah und würdigte, verdroß ihn doch die ganze Uebereinkunft im Innersten der Seele, und selbst des Geistlichen Mitwirkung, der freilich im Interesse des Grafen, aber doch durchaus nach seiner priesterlichen Ueberzeugung gehandelt hatte, hielt er für eine bloße Intrigue zu Gunsten der vornehmen Dame.
Therese führte ein stilles und freudenloses Leben. Bleich und schweigsam saß sie in ihrem Zimmer; den Leuten, die nach ihrem Kind frugen, und denen sie gesagt, es sei bei ihren Verwandten in Berlin, antwortete sie nur durch ein schmerzliches Lächeln. Um die Landwirthschaft kümmerte sie sich gar nicht mehr, glücklicherweise besorgte die alte Tante das Nothwendigste. Für Arme gab es wenig zu thun, denn des Grafen Wohlthat hatte goldene Früchte getragen, überall wurde er gerühmt, die Zeitungen verkündeten sein Lob, und der König schickte ihm sogar einen Orden!
Ein Vierteljahr war qualvoll für die arme Mutter verflossen, da erhielt sie vom Grafen einen Brief; er schrieb:
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Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/54>, abgerufen am 17.07.2024. |