Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Vermögen vergönnt ist -- gebieten Sie über seine Kasse für die Armen. Therese stand auf -- bleich, zitternd an allen Gliedern, und dem Geistlichen nahe tretend, legte sie ihre bebende Hand auf seinen Arm, indem sie ihre thränenden Augen zu ihm erhob. Sagen Sie mir noch einmal, was ich thun soll -- mit einem Male kann's mein armer Kopf nicht fassen! Der Geistliche nahm ihre kalte Hand zwischen seine beiden und sagte in mildem Tone, selbst ergriffen von der Aufregung der Frau, die er zur Märtyrerin der Barmherzigkeit stempelte: Sagen Sie zu meinem Neffen: gieb mir für meine Armen, auf daß sie leben können, und ich will dir mein Kind noch lassen, auf daß deine Frau leben kann. O Gott! sagte Therese händeringend. Es giebt so viel Arme bei uns -- beinahe das ganze Dorf -- und diese Aussicht -- o Gott, der Winter ist vor der Thür, ich darf sie nicht verhungern lassen, während ich sie retten kann. Und sich zum Grafen wendend, frug sie: Wie lange wollen Sie noch mein Kind? Der Graf hatte, im Fall Therese sich bereit zeige, auf den Vorschlag des Geistlichen einzugehen, ihren Knaben noch für drei Jahre fordern wollen -- wagte aber jetzt dem sichtbaren, furchtbaren Schmerz der Mutter gegenüber diese lange Zeit nicht auszusprechen. Vermögen vergönnt ist — gebieten Sie über seine Kasse für die Armen. Therese stand auf — bleich, zitternd an allen Gliedern, und dem Geistlichen nahe tretend, legte sie ihre bebende Hand auf seinen Arm, indem sie ihre thränenden Augen zu ihm erhob. Sagen Sie mir noch einmal, was ich thun soll — mit einem Male kann's mein armer Kopf nicht fassen! Der Geistliche nahm ihre kalte Hand zwischen seine beiden und sagte in mildem Tone, selbst ergriffen von der Aufregung der Frau, die er zur Märtyrerin der Barmherzigkeit stempelte: Sagen Sie zu meinem Neffen: gieb mir für meine Armen, auf daß sie leben können, und ich will dir mein Kind noch lassen, auf daß deine Frau leben kann. O Gott! sagte Therese händeringend. Es giebt so viel Arme bei uns — beinahe das ganze Dorf — und diese Aussicht — o Gott, der Winter ist vor der Thür, ich darf sie nicht verhungern lassen, während ich sie retten kann. Und sich zum Grafen wendend, frug sie: Wie lange wollen Sie noch mein Kind? Der Graf hatte, im Fall Therese sich bereit zeige, auf den Vorschlag des Geistlichen einzugehen, ihren Knaben noch für drei Jahre fordern wollen — wagte aber jetzt dem sichtbaren, furchtbaren Schmerz der Mutter gegenüber diese lange Zeit nicht auszusprechen. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <p><pb facs="#f0050"/> Vermögen vergönnt ist — gebieten Sie über seine Kasse für die Armen.</p><lb/> <p>Therese stand auf — bleich, zitternd an allen Gliedern, und dem Geistlichen nahe tretend, legte sie ihre bebende Hand auf seinen Arm, indem sie ihre thränenden Augen zu ihm erhob.</p><lb/> <p>Sagen Sie mir noch einmal, was ich thun soll — mit einem Male kann's mein armer Kopf nicht fassen!</p><lb/> <p>Der Geistliche nahm ihre kalte Hand zwischen seine beiden und sagte in mildem Tone, selbst ergriffen von der Aufregung der Frau, die er zur Märtyrerin der Barmherzigkeit stempelte:</p><lb/> <p>Sagen Sie zu meinem Neffen: gieb mir für meine Armen, auf daß sie leben können, und ich will dir mein Kind noch lassen, auf daß deine Frau leben kann.</p><lb/> <p>O Gott! sagte Therese händeringend. Es giebt so viel Arme bei uns — beinahe das ganze Dorf — und diese Aussicht — o Gott, der Winter ist vor der Thür, ich darf sie nicht verhungern lassen, während ich sie retten kann. Und sich zum Grafen wendend, frug sie:</p><lb/> <p>Wie lange wollen Sie noch mein Kind?</p><lb/> <p>Der Graf hatte, im Fall Therese sich bereit zeige, auf den Vorschlag des Geistlichen einzugehen, ihren Knaben noch für drei Jahre fordern wollen — wagte aber jetzt dem sichtbaren, furchtbaren Schmerz der Mutter gegenüber diese lange Zeit nicht auszusprechen.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0050]
Vermögen vergönnt ist — gebieten Sie über seine Kasse für die Armen.
Therese stand auf — bleich, zitternd an allen Gliedern, und dem Geistlichen nahe tretend, legte sie ihre bebende Hand auf seinen Arm, indem sie ihre thränenden Augen zu ihm erhob.
Sagen Sie mir noch einmal, was ich thun soll — mit einem Male kann's mein armer Kopf nicht fassen!
Der Geistliche nahm ihre kalte Hand zwischen seine beiden und sagte in mildem Tone, selbst ergriffen von der Aufregung der Frau, die er zur Märtyrerin der Barmherzigkeit stempelte:
Sagen Sie zu meinem Neffen: gieb mir für meine Armen, auf daß sie leben können, und ich will dir mein Kind noch lassen, auf daß deine Frau leben kann.
O Gott! sagte Therese händeringend. Es giebt so viel Arme bei uns — beinahe das ganze Dorf — und diese Aussicht — o Gott, der Winter ist vor der Thür, ich darf sie nicht verhungern lassen, während ich sie retten kann. Und sich zum Grafen wendend, frug sie:
Wie lange wollen Sie noch mein Kind?
Der Graf hatte, im Fall Therese sich bereit zeige, auf den Vorschlag des Geistlichen einzugehen, ihren Knaben noch für drei Jahre fordern wollen — wagte aber jetzt dem sichtbaren, furchtbaren Schmerz der Mutter gegenüber diese lange Zeit nicht auszusprechen.
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Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/50>, abgerufen am 16.07.2024. |