Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Kind hergegeben haben! Aber ich, gerade weil ich mein Kind mehr noch liebte, als er, konnte mir auch die Gefühle der Gräfin vergegenwärtigen und hatte deßhalb mehr Mitleid mit ihr! Das Bewußtsein einer so edlen That und die Ueberzeugung von dem Glücke der Gräfin muß Ihnen auch eine Befriedigung gewähren! Das thut es auch -- diese Ueberzeugung ist meine einzige Freude, und das Bewußtsein, der Menschenliebe ein solches Opfer gebracht zu haben, mein einziger Trost -- aber das sind Alles nur Sandkörner gegen das Gewicht meines Schmerzes und meiner Sehnsucht. So will ich Ihnen einen Rath geben: vergrößern Sie Ihre Wohlthaten, dehnen Sie sie so weit aus, daß sie Ihrem mütterlichen Schmerze die Wage halten, sagte der Geistliche, indem er abwechselnd auf den Grafen und auf Therese blickte. Wie meinen Sie das? Ich verstehe Sie nicht! Ich thue für die Armen, was meine Verhältnisse mir erlauben, und vielleicht noch mehr! So lassen Sie meinen Neffen hier, der so großes Interesse an Ihrer Opferfähigkeit hat, für Sie eintreten. Lassen Sie ihn den Armen vergelten, was Sie für seine Frau thun -- das ist nicht mehr als billig, und Sie können auf diese Weise eine Wohlthäterin werden, wie es sonst nur einer Frau mit fürstlichem Kind hergegeben haben! Aber ich, gerade weil ich mein Kind mehr noch liebte, als er, konnte mir auch die Gefühle der Gräfin vergegenwärtigen und hatte deßhalb mehr Mitleid mit ihr! Das Bewußtsein einer so edlen That und die Ueberzeugung von dem Glücke der Gräfin muß Ihnen auch eine Befriedigung gewähren! Das thut es auch — diese Ueberzeugung ist meine einzige Freude, und das Bewußtsein, der Menschenliebe ein solches Opfer gebracht zu haben, mein einziger Trost — aber das sind Alles nur Sandkörner gegen das Gewicht meines Schmerzes und meiner Sehnsucht. So will ich Ihnen einen Rath geben: vergrößern Sie Ihre Wohlthaten, dehnen Sie sie so weit aus, daß sie Ihrem mütterlichen Schmerze die Wage halten, sagte der Geistliche, indem er abwechselnd auf den Grafen und auf Therese blickte. Wie meinen Sie das? Ich verstehe Sie nicht! Ich thue für die Armen, was meine Verhältnisse mir erlauben, und vielleicht noch mehr! So lassen Sie meinen Neffen hier, der so großes Interesse an Ihrer Opferfähigkeit hat, für Sie eintreten. Lassen Sie ihn den Armen vergelten, was Sie für seine Frau thun — das ist nicht mehr als billig, und Sie können auf diese Weise eine Wohlthäterin werden, wie es sonst nur einer Frau mit fürstlichem <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <p><pb facs="#f0049"/> Kind hergegeben haben! Aber ich, gerade weil ich mein Kind mehr noch liebte, als er, konnte mir auch die Gefühle der Gräfin vergegenwärtigen und hatte deßhalb mehr Mitleid mit ihr!</p><lb/> <p>Das Bewußtsein einer so edlen That und die Ueberzeugung von dem Glücke der Gräfin muß Ihnen auch eine Befriedigung gewähren!</p><lb/> <p>Das thut es auch — diese Ueberzeugung ist meine einzige Freude, und das Bewußtsein, der Menschenliebe ein solches Opfer gebracht zu haben, mein einziger Trost — aber das sind Alles nur Sandkörner gegen das Gewicht meines Schmerzes und meiner Sehnsucht.</p><lb/> <p>So will ich Ihnen einen Rath geben: vergrößern Sie Ihre Wohlthaten, dehnen Sie sie so weit aus, daß sie Ihrem mütterlichen Schmerze die Wage halten, sagte der Geistliche, indem er abwechselnd auf den Grafen und auf Therese blickte.</p><lb/> <p>Wie meinen Sie das? Ich verstehe Sie nicht! Ich thue für die Armen, was meine Verhältnisse mir erlauben, und vielleicht noch mehr!</p><lb/> <p>So lassen Sie meinen Neffen hier, der so großes Interesse an Ihrer Opferfähigkeit hat, für Sie eintreten. Lassen Sie ihn den Armen vergelten, was Sie für seine Frau thun — das ist nicht mehr als billig, und Sie können auf diese Weise eine Wohlthäterin werden, wie es sonst nur einer Frau mit fürstlichem<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0049]
Kind hergegeben haben! Aber ich, gerade weil ich mein Kind mehr noch liebte, als er, konnte mir auch die Gefühle der Gräfin vergegenwärtigen und hatte deßhalb mehr Mitleid mit ihr!
Das Bewußtsein einer so edlen That und die Ueberzeugung von dem Glücke der Gräfin muß Ihnen auch eine Befriedigung gewähren!
Das thut es auch — diese Ueberzeugung ist meine einzige Freude, und das Bewußtsein, der Menschenliebe ein solches Opfer gebracht zu haben, mein einziger Trost — aber das sind Alles nur Sandkörner gegen das Gewicht meines Schmerzes und meiner Sehnsucht.
So will ich Ihnen einen Rath geben: vergrößern Sie Ihre Wohlthaten, dehnen Sie sie so weit aus, daß sie Ihrem mütterlichen Schmerze die Wage halten, sagte der Geistliche, indem er abwechselnd auf den Grafen und auf Therese blickte.
Wie meinen Sie das? Ich verstehe Sie nicht! Ich thue für die Armen, was meine Verhältnisse mir erlauben, und vielleicht noch mehr!
So lassen Sie meinen Neffen hier, der so großes Interesse an Ihrer Opferfähigkeit hat, für Sie eintreten. Lassen Sie ihn den Armen vergelten, was Sie für seine Frau thun — das ist nicht mehr als billig, und Sie können auf diese Weise eine Wohlthäterin werden, wie es sonst nur einer Frau mit fürstlichem
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Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/49>, abgerufen am 16.02.2025. |