Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.ihr eigenen Gutmüthigkeit: Sagen Sie aber nur in Gottes Namen, was Sie sagen wollten, hochwürdiger Herr, denn Sie sind auch in meinen Augen ein Priester Gottes -- bin ich doch in einer katholischen Kirche von einem katholischen Priester mit einem katholischen Manne getraut -- mein Kind ist auch dort getauft -- ich bin bereit zu hören, und zwar aufmerksam und andächtig zu hören, was Sie mir sagen werden. Nun Wohl, sagte der Geistliche, aber etwas weniger zuversichtlich, als er begonnen, sagen Sie mir ernstlich und ehrlich, verlangen Sie Ihr Kind zurück, weil Sie glauben, daß sein Aufenthalt hier im Schlosse es irgendwie geistig oder körperlich schädigen könne? Ob das der Fall sein kann, weiß Gott allein, aber ich glaube und fürchte es nicht, sonst würde ich es auch nicht auf einen einzigen Tag hergegeben haben. Nun wohl, ich sehe, Sie antworten mir ganz offen -- beantworten Sie mir also auch noch eine Frage auf dieselbe Weise? Fragen Sie! Sie verlangen also Ihr Kind nur zurück, um die Sehnsucht Ihres eigenen Mutterherzens nach ihm zu stillen? Ja, und die Sehnsucht meines Mannes, dessen gewohnte Heiterkeit seit der Entfernung des Kindes ganz verschwunden, und der mir allein die Schuld seiner Schmerzen vorwirft, denn er würde nicht sein ihr eigenen Gutmüthigkeit: Sagen Sie aber nur in Gottes Namen, was Sie sagen wollten, hochwürdiger Herr, denn Sie sind auch in meinen Augen ein Priester Gottes — bin ich doch in einer katholischen Kirche von einem katholischen Priester mit einem katholischen Manne getraut — mein Kind ist auch dort getauft — ich bin bereit zu hören, und zwar aufmerksam und andächtig zu hören, was Sie mir sagen werden. Nun Wohl, sagte der Geistliche, aber etwas weniger zuversichtlich, als er begonnen, sagen Sie mir ernstlich und ehrlich, verlangen Sie Ihr Kind zurück, weil Sie glauben, daß sein Aufenthalt hier im Schlosse es irgendwie geistig oder körperlich schädigen könne? Ob das der Fall sein kann, weiß Gott allein, aber ich glaube und fürchte es nicht, sonst würde ich es auch nicht auf einen einzigen Tag hergegeben haben. Nun wohl, ich sehe, Sie antworten mir ganz offen — beantworten Sie mir also auch noch eine Frage auf dieselbe Weise? Fragen Sie! Sie verlangen also Ihr Kind nur zurück, um die Sehnsucht Ihres eigenen Mutterherzens nach ihm zu stillen? Ja, und die Sehnsucht meines Mannes, dessen gewohnte Heiterkeit seit der Entfernung des Kindes ganz verschwunden, und der mir allein die Schuld seiner Schmerzen vorwirft, denn er würde nicht sein <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <p><pb facs="#f0048"/> ihr eigenen Gutmüthigkeit: Sagen Sie aber nur in Gottes Namen, was Sie sagen wollten, hochwürdiger Herr, denn Sie sind auch in meinen Augen ein Priester Gottes — bin ich doch in einer katholischen Kirche von einem katholischen Priester mit einem katholischen Manne getraut — mein Kind ist auch dort getauft — ich bin bereit zu hören, und zwar aufmerksam und andächtig zu hören, was Sie mir sagen werden.</p><lb/> <p>Nun Wohl, sagte der Geistliche, aber etwas weniger zuversichtlich, als er begonnen, sagen Sie mir ernstlich und ehrlich, verlangen Sie Ihr Kind zurück, weil Sie glauben, daß sein Aufenthalt hier im Schlosse es irgendwie geistig oder körperlich schädigen könne?</p><lb/> <p>Ob das der Fall sein kann, weiß Gott allein, aber ich glaube und fürchte es nicht, sonst würde ich es auch nicht auf einen einzigen Tag hergegeben haben.</p><lb/> <p>Nun wohl, ich sehe, Sie antworten mir ganz offen — beantworten Sie mir also auch noch eine Frage auf dieselbe Weise?</p><lb/> <p>Fragen Sie!</p><lb/> <p>Sie verlangen also Ihr Kind nur zurück, um die Sehnsucht Ihres eigenen Mutterherzens nach ihm zu stillen?</p><lb/> <p>Ja, und die Sehnsucht meines Mannes, dessen gewohnte Heiterkeit seit der Entfernung des Kindes ganz verschwunden, und der mir allein die Schuld seiner Schmerzen vorwirft, denn er würde nicht sein<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0048]
ihr eigenen Gutmüthigkeit: Sagen Sie aber nur in Gottes Namen, was Sie sagen wollten, hochwürdiger Herr, denn Sie sind auch in meinen Augen ein Priester Gottes — bin ich doch in einer katholischen Kirche von einem katholischen Priester mit einem katholischen Manne getraut — mein Kind ist auch dort getauft — ich bin bereit zu hören, und zwar aufmerksam und andächtig zu hören, was Sie mir sagen werden.
Nun Wohl, sagte der Geistliche, aber etwas weniger zuversichtlich, als er begonnen, sagen Sie mir ernstlich und ehrlich, verlangen Sie Ihr Kind zurück, weil Sie glauben, daß sein Aufenthalt hier im Schlosse es irgendwie geistig oder körperlich schädigen könne?
Ob das der Fall sein kann, weiß Gott allein, aber ich glaube und fürchte es nicht, sonst würde ich es auch nicht auf einen einzigen Tag hergegeben haben.
Nun wohl, ich sehe, Sie antworten mir ganz offen — beantworten Sie mir also auch noch eine Frage auf dieselbe Weise?
Fragen Sie!
Sie verlangen also Ihr Kind nur zurück, um die Sehnsucht Ihres eigenen Mutterherzens nach ihm zu stillen?
Ja, und die Sehnsucht meines Mannes, dessen gewohnte Heiterkeit seit der Entfernung des Kindes ganz verschwunden, und der mir allein die Schuld seiner Schmerzen vorwirft, denn er würde nicht sein
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Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/48>, abgerufen am 16.02.2025. |