Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.durchschaute, das fremde Kind nicht für das ihrige erkannte, war es dann nicht zehnmal schlimmer, als wenn er ihr offen und schonend den gemeinsamen Verlust mittheilte? Je näher sie kam, je mehr schwankte er, ob er den so fest beschlossenen Plan durchführen solle, und als er am Schlage hielt und sie ihm die Hand entgegenstreckte, hatte er ihn ganz und gar aufgegeben. Als sie aber mit feuchten Augen und zitternder Stimme frug: Wie geht es dem Kinde? konnte er nichts Anderes hervorbringen als: Gut, vortrefflich! Sie warf sich zurück im Wagen, sie faltete die Hände, und die Augen zum Himmel erhebend, rief sie leidenschaftlich: Guter Gott, ich danke dir! Wie sieht er aus? Ist er stärker geworden? Läuft er viel? Spricht er Etwas? Er sieht so gut aus, stotterte der Graf, indem er den Hals seines erhitzten Pferdes strich, daß du ihn gar nicht wiedererkennen würdest. Als mir ihn deine Mama entgegenbrachte, habe ich ihn nur daran und an den Kleidern erkannt. Er hat sich unendlich zu seinem Vortheil verändert -- und läuft wie ein Hirsch! O mein Gott! wäre er nur hier; diese Viertelstunde wird mir fürchterlich lang werden! Aber, frug der Gemahl, warum kommst du über Hals und Kopf, warum wartest du nicht ab, bis ich dich holte? Morgen wollte ich abreisen. Verzeihe, aber mich überfiel eine tödtliche Angst durchschaute, das fremde Kind nicht für das ihrige erkannte, war es dann nicht zehnmal schlimmer, als wenn er ihr offen und schonend den gemeinsamen Verlust mittheilte? Je näher sie kam, je mehr schwankte er, ob er den so fest beschlossenen Plan durchführen solle, und als er am Schlage hielt und sie ihm die Hand entgegenstreckte, hatte er ihn ganz und gar aufgegeben. Als sie aber mit feuchten Augen und zitternder Stimme frug: Wie geht es dem Kinde? konnte er nichts Anderes hervorbringen als: Gut, vortrefflich! Sie warf sich zurück im Wagen, sie faltete die Hände, und die Augen zum Himmel erhebend, rief sie leidenschaftlich: Guter Gott, ich danke dir! Wie sieht er aus? Ist er stärker geworden? Läuft er viel? Spricht er Etwas? Er sieht so gut aus, stotterte der Graf, indem er den Hals seines erhitzten Pferdes strich, daß du ihn gar nicht wiedererkennen würdest. Als mir ihn deine Mama entgegenbrachte, habe ich ihn nur daran und an den Kleidern erkannt. Er hat sich unendlich zu seinem Vortheil verändert — und läuft wie ein Hirsch! O mein Gott! wäre er nur hier; diese Viertelstunde wird mir fürchterlich lang werden! Aber, frug der Gemahl, warum kommst du über Hals und Kopf, warum wartest du nicht ab, bis ich dich holte? Morgen wollte ich abreisen. Verzeihe, aber mich überfiel eine tödtliche Angst <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0040"/> durchschaute, das fremde Kind nicht für das ihrige erkannte, war es dann nicht zehnmal schlimmer, als wenn er ihr offen und schonend den gemeinsamen Verlust mittheilte? Je näher sie kam, je mehr schwankte er, ob er den so fest beschlossenen Plan durchführen solle, und als er am Schlage hielt und sie ihm die Hand entgegenstreckte, hatte er ihn ganz und gar aufgegeben.</p><lb/> <p>Als sie aber mit feuchten Augen und zitternder Stimme frug: Wie geht es dem Kinde? konnte er nichts Anderes hervorbringen als: Gut, vortrefflich!</p><lb/> <p>Sie warf sich zurück im Wagen, sie faltete die Hände, und die Augen zum Himmel erhebend, rief sie leidenschaftlich: Guter Gott, ich danke dir! Wie sieht er aus? Ist er stärker geworden? Läuft er viel? Spricht er Etwas?</p><lb/> <p>Er sieht so gut aus, stotterte der Graf, indem er den Hals seines erhitzten Pferdes strich, daß du ihn gar nicht wiedererkennen würdest. Als mir ihn deine Mama entgegenbrachte, habe ich ihn nur daran und an den Kleidern erkannt. Er hat sich unendlich zu seinem Vortheil verändert — und läuft wie ein Hirsch!</p><lb/> <p> O mein Gott! wäre er nur hier; diese Viertelstunde wird mir fürchterlich lang werden!</p><lb/> <p>Aber, frug der Gemahl, warum kommst du über Hals und Kopf, warum wartest du nicht ab, bis ich dich holte? Morgen wollte ich abreisen.</p><lb/> <p>Verzeihe, aber mich überfiel eine tödtliche Angst<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0040]
durchschaute, das fremde Kind nicht für das ihrige erkannte, war es dann nicht zehnmal schlimmer, als wenn er ihr offen und schonend den gemeinsamen Verlust mittheilte? Je näher sie kam, je mehr schwankte er, ob er den so fest beschlossenen Plan durchführen solle, und als er am Schlage hielt und sie ihm die Hand entgegenstreckte, hatte er ihn ganz und gar aufgegeben.
Als sie aber mit feuchten Augen und zitternder Stimme frug: Wie geht es dem Kinde? konnte er nichts Anderes hervorbringen als: Gut, vortrefflich!
Sie warf sich zurück im Wagen, sie faltete die Hände, und die Augen zum Himmel erhebend, rief sie leidenschaftlich: Guter Gott, ich danke dir! Wie sieht er aus? Ist er stärker geworden? Läuft er viel? Spricht er Etwas?
Er sieht so gut aus, stotterte der Graf, indem er den Hals seines erhitzten Pferdes strich, daß du ihn gar nicht wiedererkennen würdest. Als mir ihn deine Mama entgegenbrachte, habe ich ihn nur daran und an den Kleidern erkannt. Er hat sich unendlich zu seinem Vortheil verändert — und läuft wie ein Hirsch!
O mein Gott! wäre er nur hier; diese Viertelstunde wird mir fürchterlich lang werden!
Aber, frug der Gemahl, warum kommst du über Hals und Kopf, warum wartest du nicht ab, bis ich dich holte? Morgen wollte ich abreisen.
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Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/40>, abgerufen am 16.07.2024. |