Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.des geliebten Enkels zu verbergen, obgleich sie auch vollkommen die fromme Lüge des Schwiegersohnes billigte. Ein Befehl des Herrn hatte sämmtliche Schloßbewohner, vom Rentmeister bis zum Kuhjungen, in dem Saale versammelt. Mitten unter ihnen, aber doch durch einen ehrerbietigen Kreis von ihnen getrennt, stand Graf Clemens, bleich, mit zusammengezogenen Brauen, und ließ forschend seine Blicke auf die Umgebung schweifen, um zu sehen, ob auch kein Einziger fehle. Endlich sagte er mit scharfer Stimme: Ich habe euch Alle hierher rufen lassen, um euch einen gemessenen Befehl zu ertheilen. In einer Stunde wird die Gräfin vielleicht eintreffen, und sie darf nicht den Tod -- unsers -- hier stockte die scharfe Rede etwas -- unsers Kindes erfahren. Der Sohn des Pachters Artmann wird ihr entgegengebracht werden. Gelingt es nun mit Gottes Hülfe, und sie hält wirklich den kleinen Clemens für unsern Bernhard, so darf ihr Niemand, nicht heute und nicht später, den Irrthum benehmen. Wer dies mein Verbot überschreitet und absichtlich oder unabsichtlich die Gräfin die Wahrheit auch nur ahnen läßt, wird -- nicht etwa des Dienstes entlassen, die Angst davor wird Keinen vorsichtig machen, der es nicht schon ist, nein, sondern wer den Tausch verräth, wird -- das schwöre ich bei meiner gräflichen Ehre -- von mir eigenhändig niedergeschossen wie ein toller Hund! Wer aber schweigt, nicht des geliebten Enkels zu verbergen, obgleich sie auch vollkommen die fromme Lüge des Schwiegersohnes billigte. Ein Befehl des Herrn hatte sämmtliche Schloßbewohner, vom Rentmeister bis zum Kuhjungen, in dem Saale versammelt. Mitten unter ihnen, aber doch durch einen ehrerbietigen Kreis von ihnen getrennt, stand Graf Clemens, bleich, mit zusammengezogenen Brauen, und ließ forschend seine Blicke auf die Umgebung schweifen, um zu sehen, ob auch kein Einziger fehle. Endlich sagte er mit scharfer Stimme: Ich habe euch Alle hierher rufen lassen, um euch einen gemessenen Befehl zu ertheilen. In einer Stunde wird die Gräfin vielleicht eintreffen, und sie darf nicht den Tod — unsers — hier stockte die scharfe Rede etwas — unsers Kindes erfahren. Der Sohn des Pachters Artmann wird ihr entgegengebracht werden. Gelingt es nun mit Gottes Hülfe, und sie hält wirklich den kleinen Clemens für unsern Bernhard, so darf ihr Niemand, nicht heute und nicht später, den Irrthum benehmen. Wer dies mein Verbot überschreitet und absichtlich oder unabsichtlich die Gräfin die Wahrheit auch nur ahnen läßt, wird — nicht etwa des Dienstes entlassen, die Angst davor wird Keinen vorsichtig machen, der es nicht schon ist, nein, sondern wer den Tausch verräth, wird — das schwöre ich bei meiner gräflichen Ehre — von mir eigenhändig niedergeschossen wie ein toller Hund! Wer aber schweigt, nicht <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0037"/> des geliebten Enkels zu verbergen, obgleich sie auch vollkommen die fromme Lüge des Schwiegersohnes billigte.</p><lb/> <p>Ein Befehl des Herrn hatte sämmtliche Schloßbewohner, vom Rentmeister bis zum Kuhjungen, in dem Saale versammelt. Mitten unter ihnen, aber doch durch einen ehrerbietigen Kreis von ihnen getrennt, stand Graf Clemens, bleich, mit zusammengezogenen Brauen, und ließ forschend seine Blicke auf die Umgebung schweifen, um zu sehen, ob auch kein Einziger fehle. Endlich sagte er mit scharfer Stimme:</p><lb/> <p>Ich habe euch Alle hierher rufen lassen, um euch einen gemessenen Befehl zu ertheilen. In einer Stunde wird die Gräfin vielleicht eintreffen, und sie darf nicht den Tod — unsers — hier stockte die scharfe Rede etwas — unsers Kindes erfahren. Der Sohn des Pachters Artmann wird ihr entgegengebracht werden. Gelingt es nun mit Gottes Hülfe, und sie hält wirklich den kleinen Clemens für unsern Bernhard, so darf ihr Niemand, nicht heute und nicht später, den Irrthum benehmen. Wer dies mein Verbot überschreitet und absichtlich oder unabsichtlich die Gräfin die Wahrheit auch nur ahnen läßt, wird — nicht etwa des Dienstes entlassen, die Angst davor wird Keinen vorsichtig machen, der es nicht schon ist, nein, sondern wer den Tausch verräth, wird — das schwöre ich bei meiner gräflichen Ehre — von mir eigenhändig niedergeschossen wie ein toller Hund! Wer aber schweigt, nicht<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0037]
des geliebten Enkels zu verbergen, obgleich sie auch vollkommen die fromme Lüge des Schwiegersohnes billigte.
Ein Befehl des Herrn hatte sämmtliche Schloßbewohner, vom Rentmeister bis zum Kuhjungen, in dem Saale versammelt. Mitten unter ihnen, aber doch durch einen ehrerbietigen Kreis von ihnen getrennt, stand Graf Clemens, bleich, mit zusammengezogenen Brauen, und ließ forschend seine Blicke auf die Umgebung schweifen, um zu sehen, ob auch kein Einziger fehle. Endlich sagte er mit scharfer Stimme:
Ich habe euch Alle hierher rufen lassen, um euch einen gemessenen Befehl zu ertheilen. In einer Stunde wird die Gräfin vielleicht eintreffen, und sie darf nicht den Tod — unsers — hier stockte die scharfe Rede etwas — unsers Kindes erfahren. Der Sohn des Pachters Artmann wird ihr entgegengebracht werden. Gelingt es nun mit Gottes Hülfe, und sie hält wirklich den kleinen Clemens für unsern Bernhard, so darf ihr Niemand, nicht heute und nicht später, den Irrthum benehmen. Wer dies mein Verbot überschreitet und absichtlich oder unabsichtlich die Gräfin die Wahrheit auch nur ahnen läßt, wird — nicht etwa des Dienstes entlassen, die Angst davor wird Keinen vorsichtig machen, der es nicht schon ist, nein, sondern wer den Tausch verräth, wird — das schwöre ich bei meiner gräflichen Ehre — von mir eigenhändig niedergeschossen wie ein toller Hund! Wer aber schweigt, nicht
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Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/37>, abgerufen am 16.02.2025. |