Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.zu ihm, nahm seine Hand und sagte gerührt: Artmann, ich danke dir. Ich muß wahr sein, Herr Graf! stotterte der bleiche Bernhard, nicht das Mitgefühl allein hat mich so ergriffen -- sondern vorhin, als wir Alle an den Sarg traten, war es mir gerade, als sehe ich darin mein eigenes Kind vor mir liegen! Diese Aehnlichkeit ist es, die mich so erschüttert hat! Dein Kind, rief der Graf, dem diese Worte wie ein Wink von oben waren, dein Kind gleicht dem meinen? O rasch -- rasch zu deinem Hofe, lasse mich dein Kind sehen! Und eine Viertelstunde darauf fuhr der Graf wirklich mit Bernhard im raschesten Trabe davon. Therese war im höchsten Grade erstaunt, als sie den Grafen mit ihrem Manne bei sich eintreten sah. Er grüßte sie kaum und frug nur eilig: Wo ist Ihr Kind? Im Nebenzimmer. So holen Sie es, ich bitte Sie, und du, Artmann, bringe mir aus der Wagentasche ein Päckchen, das ich dort eingesteckt. Das Kind kam auf dem Arme der Mutter, der Graf betrachtete den Knaben so lange und aufmerksam, als wolle er des Kindes Seele mit den Augen verschlingen, bis Therese ganz ängstlich wurde. Er ist größer, stärker und blühender -- aber das haben sie ja Alles meiner Frau von ihrem Kinde ge- zu ihm, nahm seine Hand und sagte gerührt: Artmann, ich danke dir. Ich muß wahr sein, Herr Graf! stotterte der bleiche Bernhard, nicht das Mitgefühl allein hat mich so ergriffen — sondern vorhin, als wir Alle an den Sarg traten, war es mir gerade, als sehe ich darin mein eigenes Kind vor mir liegen! Diese Aehnlichkeit ist es, die mich so erschüttert hat! Dein Kind, rief der Graf, dem diese Worte wie ein Wink von oben waren, dein Kind gleicht dem meinen? O rasch — rasch zu deinem Hofe, lasse mich dein Kind sehen! Und eine Viertelstunde darauf fuhr der Graf wirklich mit Bernhard im raschesten Trabe davon. Therese war im höchsten Grade erstaunt, als sie den Grafen mit ihrem Manne bei sich eintreten sah. Er grüßte sie kaum und frug nur eilig: Wo ist Ihr Kind? Im Nebenzimmer. So holen Sie es, ich bitte Sie, und du, Artmann, bringe mir aus der Wagentasche ein Päckchen, das ich dort eingesteckt. Das Kind kam auf dem Arme der Mutter, der Graf betrachtete den Knaben so lange und aufmerksam, als wolle er des Kindes Seele mit den Augen verschlingen, bis Therese ganz ängstlich wurde. Er ist größer, stärker und blühender — aber das haben sie ja Alles meiner Frau von ihrem Kinde ge- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="3"> <p><pb facs="#f0032"/> zu ihm, nahm seine Hand und sagte gerührt: Artmann, ich danke dir.</p><lb/> <p>Ich muß wahr sein, Herr Graf! stotterte der bleiche Bernhard, nicht das Mitgefühl allein hat mich so ergriffen — sondern vorhin, als wir Alle an den Sarg traten, war es mir gerade, als sehe ich darin mein eigenes Kind vor mir liegen! Diese Aehnlichkeit ist es, die mich so erschüttert hat!</p><lb/> <p>Dein Kind, rief der Graf, dem diese Worte wie ein Wink von oben waren, dein Kind gleicht dem meinen? O rasch — rasch zu deinem Hofe, lasse mich dein Kind sehen!</p><lb/> <p>Und eine Viertelstunde darauf fuhr der Graf wirklich mit Bernhard im raschesten Trabe davon.</p><lb/> <p>Therese war im höchsten Grade erstaunt, als sie den Grafen mit ihrem Manne bei sich eintreten sah. Er grüßte sie kaum und frug nur eilig: Wo ist Ihr Kind?</p><lb/> <p>Im Nebenzimmer.</p><lb/> <p>So holen Sie es, ich bitte Sie, und du, Artmann, bringe mir aus der Wagentasche ein Päckchen, das ich dort eingesteckt.</p><lb/> <p>Das Kind kam auf dem Arme der Mutter, der Graf betrachtete den Knaben so lange und aufmerksam, als wolle er des Kindes Seele mit den Augen verschlingen, bis Therese ganz ängstlich wurde.</p><lb/> <p>Er ist größer, stärker und blühender — aber das haben sie ja Alles meiner Frau von ihrem Kinde ge-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0032]
zu ihm, nahm seine Hand und sagte gerührt: Artmann, ich danke dir.
Ich muß wahr sein, Herr Graf! stotterte der bleiche Bernhard, nicht das Mitgefühl allein hat mich so ergriffen — sondern vorhin, als wir Alle an den Sarg traten, war es mir gerade, als sehe ich darin mein eigenes Kind vor mir liegen! Diese Aehnlichkeit ist es, die mich so erschüttert hat!
Dein Kind, rief der Graf, dem diese Worte wie ein Wink von oben waren, dein Kind gleicht dem meinen? O rasch — rasch zu deinem Hofe, lasse mich dein Kind sehen!
Und eine Viertelstunde darauf fuhr der Graf wirklich mit Bernhard im raschesten Trabe davon.
Therese war im höchsten Grade erstaunt, als sie den Grafen mit ihrem Manne bei sich eintreten sah. Er grüßte sie kaum und frug nur eilig: Wo ist Ihr Kind?
Im Nebenzimmer.
So holen Sie es, ich bitte Sie, und du, Artmann, bringe mir aus der Wagentasche ein Päckchen, das ich dort eingesteckt.
Das Kind kam auf dem Arme der Mutter, der Graf betrachtete den Knaben so lange und aufmerksam, als wolle er des Kindes Seele mit den Augen verschlingen, bis Therese ganz ängstlich wurde.
Er ist größer, stärker und blühender — aber das haben sie ja Alles meiner Frau von ihrem Kinde ge-
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Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/32>, abgerufen am 27.07.2024. |