Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.freute sich an deren Bekanntschaft und nahm sich vor, recht freundlich und herablassend gegen dieselbe zu sein. Als sie fortfuhr, nahm sie auch wirklich die Zuneigung Theresens mit, die schon nach einer halben Stunde Zusammenseins mit weiblichem Tact die Gräfin durchschaute und das Unabsichtliche ihres so oft beleidigenden Benehmens richtig würdigte. Nun, wie gefällt dir Ihre hochgräfliche Gnaden? frug Bernhard spöttisch seine Frau, nachdem er die Dame wieder in den Wagen gehoben, und während in der Allee, die zum Hofe führte, nur noch der Staub, den die vier Mecklenburger in die Höhe warfen, zu sehen war. O gut. Gut? Diese Frau, die wegen ihres Hochmuths und ihres Uebermuths förmlich berühmt ist, selbst unter ihres Gleichen? Sie verdient das nicht. Sie ist nur sehr verwöhnt und verzogen. Du hättest hören sollen, wie sie mir vorklagte, daß ihre Eltern, ihr Gemahl und ihr Arzt sie durchaus noch diesen Sommer nach Ostende zu gehen bewegen wollten; weil sie aber verlangten, sie solle ihr Kind bei seiner Großmutter lassen, da ihm die Reise leicht schaden könne, so werde sie nicht gehen. Wie liebt sie ihr Kind! Wie kann Jemand, der so tiefes Gefühl besitzt, hochmüthig sein? Das können nur oberflächliche Menschen. freute sich an deren Bekanntschaft und nahm sich vor, recht freundlich und herablassend gegen dieselbe zu sein. Als sie fortfuhr, nahm sie auch wirklich die Zuneigung Theresens mit, die schon nach einer halben Stunde Zusammenseins mit weiblichem Tact die Gräfin durchschaute und das Unabsichtliche ihres so oft beleidigenden Benehmens richtig würdigte. Nun, wie gefällt dir Ihre hochgräfliche Gnaden? frug Bernhard spöttisch seine Frau, nachdem er die Dame wieder in den Wagen gehoben, und während in der Allee, die zum Hofe führte, nur noch der Staub, den die vier Mecklenburger in die Höhe warfen, zu sehen war. O gut. Gut? Diese Frau, die wegen ihres Hochmuths und ihres Uebermuths förmlich berühmt ist, selbst unter ihres Gleichen? Sie verdient das nicht. Sie ist nur sehr verwöhnt und verzogen. Du hättest hören sollen, wie sie mir vorklagte, daß ihre Eltern, ihr Gemahl und ihr Arzt sie durchaus noch diesen Sommer nach Ostende zu gehen bewegen wollten; weil sie aber verlangten, sie solle ihr Kind bei seiner Großmutter lassen, da ihm die Reise leicht schaden könne, so werde sie nicht gehen. Wie liebt sie ihr Kind! Wie kann Jemand, der so tiefes Gefühl besitzt, hochmüthig sein? Das können nur oberflächliche Menschen. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <p><pb facs="#f0029"/> freute sich an deren Bekanntschaft und nahm sich vor, recht freundlich und herablassend gegen dieselbe zu sein.</p><lb/> <p>Als sie fortfuhr, nahm sie auch wirklich die Zuneigung Theresens mit, die schon nach einer halben Stunde Zusammenseins mit weiblichem Tact die Gräfin durchschaute und das Unabsichtliche ihres so oft beleidigenden Benehmens richtig würdigte.</p><lb/> <p>Nun, wie gefällt dir Ihre hochgräfliche Gnaden? frug Bernhard spöttisch seine Frau, nachdem er die Dame wieder in den Wagen gehoben, und während in der Allee, die zum Hofe führte, nur noch der Staub, den die vier Mecklenburger in die Höhe warfen, zu sehen war.</p><lb/> <p>O gut.</p><lb/> <p>Gut? Diese Frau, die wegen ihres Hochmuths und ihres Uebermuths förmlich berühmt ist, selbst unter ihres Gleichen?</p><lb/> <p>Sie verdient das nicht. Sie ist nur sehr verwöhnt und verzogen. Du hättest hören sollen, wie sie mir vorklagte, daß ihre Eltern, ihr Gemahl und ihr Arzt sie durchaus noch diesen Sommer nach Ostende zu gehen bewegen wollten; weil sie aber verlangten, sie solle ihr Kind bei seiner Großmutter lassen, da ihm die Reise leicht schaden könne, so werde sie nicht gehen. Wie liebt sie ihr Kind! Wie kann Jemand, der so tiefes Gefühl besitzt, hochmüthig sein? Das können nur oberflächliche Menschen.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0029]
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Als sie fortfuhr, nahm sie auch wirklich die Zuneigung Theresens mit, die schon nach einer halben Stunde Zusammenseins mit weiblichem Tact die Gräfin durchschaute und das Unabsichtliche ihres so oft beleidigenden Benehmens richtig würdigte.
Nun, wie gefällt dir Ihre hochgräfliche Gnaden? frug Bernhard spöttisch seine Frau, nachdem er die Dame wieder in den Wagen gehoben, und während in der Allee, die zum Hofe führte, nur noch der Staub, den die vier Mecklenburger in die Höhe warfen, zu sehen war.
O gut.
Gut? Diese Frau, die wegen ihres Hochmuths und ihres Uebermuths förmlich berühmt ist, selbst unter ihres Gleichen?
Sie verdient das nicht. Sie ist nur sehr verwöhnt und verzogen. Du hättest hören sollen, wie sie mir vorklagte, daß ihre Eltern, ihr Gemahl und ihr Arzt sie durchaus noch diesen Sommer nach Ostende zu gehen bewegen wollten; weil sie aber verlangten, sie solle ihr Kind bei seiner Großmutter lassen, da ihm die Reise leicht schaden könne, so werde sie nicht gehen. Wie liebt sie ihr Kind! Wie kann Jemand, der so tiefes Gefühl besitzt, hochmüthig sein? Das können nur oberflächliche Menschen.
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Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/29>, abgerufen am 16.07.2024. |