Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.wirklich sehr schwachen Gesundheit willen wurde jede mütterliche Beschwerde von ihr fern gehalten. Das Kind durfte nicht bei ihr schlafen, sie durfte es nicht nähren, nicht einmal auf dem Arme tragen; nur seine Gesellschaft war ihr in den Tagesstunden vergönnt, und dieses einzige Glück ließ sie sich auch um keine Minute verkürzen. Sie ahnte jetzt nicht, daß es unhöflich von ihr war, neben Therese zu sitzen und, in Gedanken versunken, keine Silbe mit ihr zu sprechen. Nach einer kleinen Weile brachte Theresens Dienstmädchen den Thee und was dazu gehörte, die Gräfin sprach noch immer nicht, sondern beobachtete mit neugieriger Verwunderung Theresens Geschicklichkeit bei der Zubereitung des Thees. Endlich sagte sie: Wie gut Sie das verstehen! Therese erröthete wieder, aber sie antwortete nur: Das Compliment hat mir bisher nur mein Mann gemacht. Trinken Sie zusammen Thee? Im Winter jeden Abend, und nachher ist er so gut, mir einige Stunden lang vorzulesen. Die Gräfin legte sich zurück und sagte nach einer Weile mit einem sonderbaren Tone, dem Etwas wie ein Seufzer voranging: Sie sind wirklich eine glückliche, eine wahrhaft beneidenswerthe Frau! Ich war weit entfernt, mir Ihre Existenz hier so harmonisch, so ideal zu denken. wirklich sehr schwachen Gesundheit willen wurde jede mütterliche Beschwerde von ihr fern gehalten. Das Kind durfte nicht bei ihr schlafen, sie durfte es nicht nähren, nicht einmal auf dem Arme tragen; nur seine Gesellschaft war ihr in den Tagesstunden vergönnt, und dieses einzige Glück ließ sie sich auch um keine Minute verkürzen. Sie ahnte jetzt nicht, daß es unhöflich von ihr war, neben Therese zu sitzen und, in Gedanken versunken, keine Silbe mit ihr zu sprechen. Nach einer kleinen Weile brachte Theresens Dienstmädchen den Thee und was dazu gehörte, die Gräfin sprach noch immer nicht, sondern beobachtete mit neugieriger Verwunderung Theresens Geschicklichkeit bei der Zubereitung des Thees. Endlich sagte sie: Wie gut Sie das verstehen! Therese erröthete wieder, aber sie antwortete nur: Das Compliment hat mir bisher nur mein Mann gemacht. Trinken Sie zusammen Thee? Im Winter jeden Abend, und nachher ist er so gut, mir einige Stunden lang vorzulesen. Die Gräfin legte sich zurück und sagte nach einer Weile mit einem sonderbaren Tone, dem Etwas wie ein Seufzer voranging: Sie sind wirklich eine glückliche, eine wahrhaft beneidenswerthe Frau! Ich war weit entfernt, mir Ihre Existenz hier so harmonisch, so ideal zu denken. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <p><pb facs="#f0027"/> wirklich sehr schwachen Gesundheit willen wurde jede mütterliche Beschwerde von ihr fern gehalten. Das Kind durfte nicht bei ihr schlafen, sie durfte es nicht nähren, nicht einmal auf dem Arme tragen; nur seine Gesellschaft war ihr in den Tagesstunden vergönnt, und dieses einzige Glück ließ sie sich auch um keine Minute verkürzen.</p><lb/> <p>Sie ahnte jetzt nicht, daß es unhöflich von ihr war, neben Therese zu sitzen und, in Gedanken versunken, keine Silbe mit ihr zu sprechen.</p><lb/> <p>Nach einer kleinen Weile brachte Theresens Dienstmädchen den Thee und was dazu gehörte, die Gräfin sprach noch immer nicht, sondern beobachtete mit neugieriger Verwunderung Theresens Geschicklichkeit bei der Zubereitung des Thees.</p><lb/> <p>Endlich sagte sie: Wie gut Sie das verstehen!</p><lb/> <p>Therese erröthete wieder, aber sie antwortete nur: Das Compliment hat mir bisher nur mein Mann gemacht.</p><lb/> <p>Trinken Sie zusammen Thee?</p><lb/> <p>Im Winter jeden Abend, und nachher ist er so gut, mir einige Stunden lang vorzulesen.</p><lb/> <p>Die Gräfin legte sich zurück und sagte nach einer Weile mit einem sonderbaren Tone, dem Etwas wie ein Seufzer voranging:</p><lb/> <p>Sie sind wirklich eine glückliche, eine wahrhaft beneidenswerthe Frau! Ich war weit entfernt, mir Ihre Existenz hier so harmonisch, so ideal zu denken.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0027]
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Sie ahnte jetzt nicht, daß es unhöflich von ihr war, neben Therese zu sitzen und, in Gedanken versunken, keine Silbe mit ihr zu sprechen.
Nach einer kleinen Weile brachte Theresens Dienstmädchen den Thee und was dazu gehörte, die Gräfin sprach noch immer nicht, sondern beobachtete mit neugieriger Verwunderung Theresens Geschicklichkeit bei der Zubereitung des Thees.
Endlich sagte sie: Wie gut Sie das verstehen!
Therese erröthete wieder, aber sie antwortete nur: Das Compliment hat mir bisher nur mein Mann gemacht.
Trinken Sie zusammen Thee?
Im Winter jeden Abend, und nachher ist er so gut, mir einige Stunden lang vorzulesen.
Die Gräfin legte sich zurück und sagte nach einer Weile mit einem sonderbaren Tone, dem Etwas wie ein Seufzer voranging:
Sie sind wirklich eine glückliche, eine wahrhaft beneidenswerthe Frau! Ich war weit entfernt, mir Ihre Existenz hier so harmonisch, so ideal zu denken.
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Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/27>, abgerufen am 27.07.2024. |