Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Auf der Schwelle von Theresens Wohnzimmer, das nach dem Garten zu lag, blieb die Gräfin stehen und sagte überrascht: Wie hübsch ist es hier! Die äußerst einfache Einrichtung war auch ein redendes Zeugniß für Theresens guten Geschmack und ihren häuslichen Sinn, und sicher war ihr Zimmer, dessen Inhalt nicht den zehnten Theil der Einrichtung des Boudoirs der Gräfin gekostet, doch wohnlicher. Ein grün und grauer Wachsteppich deckte den Boden, ein glattes, hellgrünes Papier die Wände, die Meubles, mit dunkelgrünem Damast überzogen, standen aber alle an der richtigen Stelle, der kleine Schreibtisch war mit zierlichen Nippsachen, Geschenken ihrer Berliner Freundinnen, bedeckt, und an den Fenstern, die halb von weißen, halb von grünen wollenen Vorhängen verhüllt waren, standen schöne große Epheugitter und dazwischen Blumentische von Holzrinde mit Rosentöpfen. An den Wänden hingen ein paar gute Kupferstiche und einige Bücherbretter. Wie hübsch! wiederholte die Gräfin noch einmal und ging zum Canape, ließ sich matt darauf nieder und befahl der Wärterin, ihr das Kind zu reichen, das sie sogleich auf den Boden stellte, um es seine neue Kunst zeigen zu lassen. Das gräfliche Kind machte einige schwankende Schrittchen, weinte aber dann, und seine Mutter nahm es auf den Schooß. Auf der Schwelle von Theresens Wohnzimmer, das nach dem Garten zu lag, blieb die Gräfin stehen und sagte überrascht: Wie hübsch ist es hier! Die äußerst einfache Einrichtung war auch ein redendes Zeugniß für Theresens guten Geschmack und ihren häuslichen Sinn, und sicher war ihr Zimmer, dessen Inhalt nicht den zehnten Theil der Einrichtung des Boudoirs der Gräfin gekostet, doch wohnlicher. Ein grün und grauer Wachsteppich deckte den Boden, ein glattes, hellgrünes Papier die Wände, die Meubles, mit dunkelgrünem Damast überzogen, standen aber alle an der richtigen Stelle, der kleine Schreibtisch war mit zierlichen Nippsachen, Geschenken ihrer Berliner Freundinnen, bedeckt, und an den Fenstern, die halb von weißen, halb von grünen wollenen Vorhängen verhüllt waren, standen schöne große Epheugitter und dazwischen Blumentische von Holzrinde mit Rosentöpfen. An den Wänden hingen ein paar gute Kupferstiche und einige Bücherbretter. Wie hübsch! wiederholte die Gräfin noch einmal und ging zum Canapé, ließ sich matt darauf nieder und befahl der Wärterin, ihr das Kind zu reichen, das sie sogleich auf den Boden stellte, um es seine neue Kunst zeigen zu lassen. Das gräfliche Kind machte einige schwankende Schrittchen, weinte aber dann, und seine Mutter nahm es auf den Schooß. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <pb facs="#f0022"/> <p>Auf der Schwelle von Theresens Wohnzimmer, das nach dem Garten zu lag, blieb die Gräfin stehen und sagte überrascht: Wie hübsch ist es hier!</p><lb/> <p>Die äußerst einfache Einrichtung war auch ein redendes Zeugniß für Theresens guten Geschmack und ihren häuslichen Sinn, und sicher war ihr Zimmer, dessen Inhalt nicht den zehnten Theil der Einrichtung des Boudoirs der Gräfin gekostet, doch wohnlicher.</p><lb/> <p>Ein grün und grauer Wachsteppich deckte den Boden, ein glattes, hellgrünes Papier die Wände, die Meubles, mit dunkelgrünem Damast überzogen, standen aber alle an der richtigen Stelle, der kleine Schreibtisch war mit zierlichen Nippsachen, Geschenken ihrer Berliner Freundinnen, bedeckt, und an den Fenstern, die halb von weißen, halb von grünen wollenen Vorhängen verhüllt waren, standen schöne große Epheugitter und dazwischen Blumentische von Holzrinde mit Rosentöpfen. An den Wänden hingen ein paar gute Kupferstiche und einige Bücherbretter.</p><lb/> <p>Wie hübsch! wiederholte die Gräfin noch einmal und ging zum Canapé, ließ sich matt darauf nieder und befahl der Wärterin, ihr das Kind zu reichen, das sie sogleich auf den Boden stellte, um es seine neue Kunst zeigen zu lassen.</p><lb/> <p>Das gräfliche Kind machte einige schwankende Schrittchen, weinte aber dann, und seine Mutter nahm es auf den Schooß.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0022]
Auf der Schwelle von Theresens Wohnzimmer, das nach dem Garten zu lag, blieb die Gräfin stehen und sagte überrascht: Wie hübsch ist es hier!
Die äußerst einfache Einrichtung war auch ein redendes Zeugniß für Theresens guten Geschmack und ihren häuslichen Sinn, und sicher war ihr Zimmer, dessen Inhalt nicht den zehnten Theil der Einrichtung des Boudoirs der Gräfin gekostet, doch wohnlicher.
Ein grün und grauer Wachsteppich deckte den Boden, ein glattes, hellgrünes Papier die Wände, die Meubles, mit dunkelgrünem Damast überzogen, standen aber alle an der richtigen Stelle, der kleine Schreibtisch war mit zierlichen Nippsachen, Geschenken ihrer Berliner Freundinnen, bedeckt, und an den Fenstern, die halb von weißen, halb von grünen wollenen Vorhängen verhüllt waren, standen schöne große Epheugitter und dazwischen Blumentische von Holzrinde mit Rosentöpfen. An den Wänden hingen ein paar gute Kupferstiche und einige Bücherbretter.
Wie hübsch! wiederholte die Gräfin noch einmal und ging zum Canapé, ließ sich matt darauf nieder und befahl der Wärterin, ihr das Kind zu reichen, das sie sogleich auf den Boden stellte, um es seine neue Kunst zeigen zu lassen.
Das gräfliche Kind machte einige schwankende Schrittchen, weinte aber dann, und seine Mutter nahm es auf den Schooß.
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Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/22>, abgerufen am 27.07.2024. |