Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Therese beantwortete diese wichtige Nachricht nur mit einem freundlichen Lächeln, worin ein gewisser Stolz nicht zu verkennen war. Deßhalb frug die Gräfin denn auch überrascht: Läuft am Ende der Ihrige auch schon? Seit acht Wochen, bemühte sich Therese mit Mäßigung und Demuth hervorzubringen. Seit acht Wochen! Er ist aber auch drei volle Tage älter! Ja wohl! sagte Artmann, der auch an den Wagen kam, er wird aber nicht so gepflegt wie der junge Graf. Oho, rief Therese scherzhaft böse, man sollte meinen, ich vernachlässige mein Kind! Wo ist er? Im Garten; aber wollen die Frau Gräfin nicht etwas aussteigen? Im Garten ist's so schön! setzte Therese hinzu, weil sie fürchtete, die Gräfin werde meinen, sie wolle sie in ihr bescheidenes Zimmer führen. Ja, ich will aussteigen, sagte die Gräfin, aber Sie erlauben mir wohl, in Ihr Zimmer zu treten, ich bin noch zu schwach, um das stille Sitzen in freier Luft zu ertragen. Der Bediente und Artmann hoben die feine Gestalt der Dame aus dem Wagen. Sie stützte sich sorglos auf ihres Pachters Schulter, indem sie mit nachlässiger Haltung die kleine gepflasterte Strecke durchschritt; hinter ihr trug die Wärterin das Kind, das mit Eleganz gekleidet war, wie ein französischer Prinz. Therese beantwortete diese wichtige Nachricht nur mit einem freundlichen Lächeln, worin ein gewisser Stolz nicht zu verkennen war. Deßhalb frug die Gräfin denn auch überrascht: Läuft am Ende der Ihrige auch schon? Seit acht Wochen, bemühte sich Therese mit Mäßigung und Demuth hervorzubringen. Seit acht Wochen! Er ist aber auch drei volle Tage älter! Ja wohl! sagte Artmann, der auch an den Wagen kam, er wird aber nicht so gepflegt wie der junge Graf. Oho, rief Therese scherzhaft böse, man sollte meinen, ich vernachlässige mein Kind! Wo ist er? Im Garten; aber wollen die Frau Gräfin nicht etwas aussteigen? Im Garten ist's so schön! setzte Therese hinzu, weil sie fürchtete, die Gräfin werde meinen, sie wolle sie in ihr bescheidenes Zimmer führen. Ja, ich will aussteigen, sagte die Gräfin, aber Sie erlauben mir wohl, in Ihr Zimmer zu treten, ich bin noch zu schwach, um das stille Sitzen in freier Luft zu ertragen. Der Bediente und Artmann hoben die feine Gestalt der Dame aus dem Wagen. Sie stützte sich sorglos auf ihres Pachters Schulter, indem sie mit nachlässiger Haltung die kleine gepflasterte Strecke durchschritt; hinter ihr trug die Wärterin das Kind, das mit Eleganz gekleidet war, wie ein französischer Prinz. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <pb facs="#f0021"/> <p>Therese beantwortete diese wichtige Nachricht nur mit einem freundlichen Lächeln, worin ein gewisser Stolz nicht zu verkennen war. Deßhalb frug die Gräfin denn auch überrascht:</p><lb/> <p>Läuft am Ende der Ihrige auch schon?</p><lb/> <p>Seit acht Wochen, bemühte sich Therese mit Mäßigung und Demuth hervorzubringen.</p><lb/> <p>Seit acht Wochen! Er ist aber auch drei volle Tage älter!</p><lb/> <p>Ja wohl! sagte Artmann, der auch an den Wagen kam, er wird aber nicht so gepflegt wie der junge Graf.</p><lb/> <p>Oho, rief Therese scherzhaft böse, man sollte meinen, ich vernachlässige mein Kind!</p><lb/> <p>Wo ist er?</p><lb/> <p>Im Garten; aber wollen die Frau Gräfin nicht etwas aussteigen? Im Garten ist's so schön! setzte Therese hinzu, weil sie fürchtete, die Gräfin werde meinen, sie wolle sie in ihr bescheidenes Zimmer führen.</p><lb/> <p>Ja, ich will aussteigen, sagte die Gräfin, aber Sie erlauben <choice><sic>wir</sic><corr>mir</corr></choice> wohl, in Ihr Zimmer zu treten, ich bin noch zu schwach, um das stille Sitzen in freier Luft zu ertragen.</p><lb/> <p>Der Bediente und Artmann hoben die feine Gestalt der Dame aus dem Wagen. Sie stützte sich sorglos auf ihres Pachters Schulter, indem sie mit nachlässiger Haltung die kleine gepflasterte Strecke durchschritt; hinter ihr trug die Wärterin das Kind, das mit Eleganz gekleidet war, wie ein französischer Prinz.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0021]
Therese beantwortete diese wichtige Nachricht nur mit einem freundlichen Lächeln, worin ein gewisser Stolz nicht zu verkennen war. Deßhalb frug die Gräfin denn auch überrascht:
Läuft am Ende der Ihrige auch schon?
Seit acht Wochen, bemühte sich Therese mit Mäßigung und Demuth hervorzubringen.
Seit acht Wochen! Er ist aber auch drei volle Tage älter!
Ja wohl! sagte Artmann, der auch an den Wagen kam, er wird aber nicht so gepflegt wie der junge Graf.
Oho, rief Therese scherzhaft böse, man sollte meinen, ich vernachlässige mein Kind!
Wo ist er?
Im Garten; aber wollen die Frau Gräfin nicht etwas aussteigen? Im Garten ist's so schön! setzte Therese hinzu, weil sie fürchtete, die Gräfin werde meinen, sie wolle sie in ihr bescheidenes Zimmer führen.
Ja, ich will aussteigen, sagte die Gräfin, aber Sie erlauben mir wohl, in Ihr Zimmer zu treten, ich bin noch zu schwach, um das stille Sitzen in freier Luft zu ertragen.
Der Bediente und Artmann hoben die feine Gestalt der Dame aus dem Wagen. Sie stützte sich sorglos auf ihres Pachters Schulter, indem sie mit nachlässiger Haltung die kleine gepflasterte Strecke durchschritt; hinter ihr trug die Wärterin das Kind, das mit Eleganz gekleidet war, wie ein französischer Prinz.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/21 |
Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/21>, abgerufen am 16.02.2025. |