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Gabelentz, Georg von der: Die ostasiatischen Studien und die Sprachwissenschaft. In: Unsere Zeit, Jg. 1881, Bd. 1, S. 279-291.

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Unsere Zeit.
ist dies Sprachvermögen Gegenstand der Linguistik oder nicht? Und wenn es das
ist, muß es dann nicht durch die Linguistik definirt werden? Wie aber soll man
es definiren, solange man nicht den ganzen Umfang seiner Aeußerungen, solange
man nicht alle Möglichkeiten der Sprachentwickelung kennt? Die Naturforscher
lehren uns täglich, daß die niedern Organismen für die Wissenschaft nicht minder
belangreich sind als die höhern; unsere Etymologen suchen in der höhern Sprach¬
form die niedere als aufgehobenes Moment zu entdecken, und wer Darwin's Lehre
auf die Sprachwissenschaft anwenden will, der muß folgerichtig annehmen, daß
auch unsere Sprachen vor Jahrtausenden nicht reicher und feiner gewesen seien
als jene der rohesten uns bekannten Völkerschaften. Es dürfte viel Phantasie dazu
gehören, sich ohne lebende Vorbilder einen derartigen Urzustand zu vergegenwärtigen,
und unsere Sprachanatomen haben manche Anregung zu hoffen von jenen Aermsten
und Schwächsten der Sprachenwelt.

Und muß denn eine Sprache todt sein, damit sie unser Interesse verdiene?
Oder muß ihre Vorgeschichte zugänglich sein, damit ihre Erforschung lohne?
Heutzutage veranschlagt man das Alter des Menschengeschlechts so hoch, weiß man
von der verschiedenen Lebensgeschwindigkeit der Sprachen so viel, man
wol zweifeln darf, ob das, was vor 4000 Jahren aus unserer Vorfahren Mund
erklungen, den ältesten Formen menschlicher Rede ähnlicher gewesen als die eine
oder andere der jetztlebenden Sprachen oder etwa das Gelalle unserer Kinder.

Es ist dies ein nebensächlicher Gesichtspunkt; denn man erforscht nicht die eine
Sprachform, um diese oder jene andere besser zu begreifen, sondern um ein reicheres,
volleres, wahreres Bild von der Mannichfaltigkeit der Sprachorganismen zu ge¬
winnen. Es leuchtet ein, daß zu diesem Zwecke nicht ein oberflächliches Nippen
an dieser oder jener Grammatik genügt. Nur wenn eine Sprache zu einem Theil
unsers Ich geworden ist, können wir über sie, über ihre Vorzüge und Schwächen
urtheilen. In einem sehr beliebten und verbreiteten Buche können wir freilich das
Gegentheil lesen: ein Selbstlob der Leichtfertigkeit, das seinesgleichen sucht!

Daß Völkerkunde und Linguistik eine ebenso sorgfältige Untersuchung aller
Sprachfamilien erheischen, wie sie dermalen für den indoeuropäischen Stamm ge¬
führt wird, möchte keines Beweises bedürfen. Namhaftes ist in dieser Richtung
bereits geleistet, viel mehr aber noch zu thun. Daß wir uns meist ohne alte
Sprachen behelfen müssen, muß uns zu doppelter Vorsicht, zu einem ganz behut¬
samen Fortschreiten vom Nächsten zum Entferntern veranlassen. Der Erfolg kann
bei sorgsam methodischem Vorgehen nicht ausbleiben; der Gewinn aber wird ein
doppelter sein. Zunächst eine Vervollständigung und Berichtigung unserer Kenntniß
von der Abgrenzung der Sprachstämme nach außen und von ihrer Gliederung
nach innen. Dann aber auch, oder ich müßte mich sehr täuschen, eine Bereicherung
der Sprachphilosophie selbst. Der indogermanische Sprachstamm scheint nämlich
nur einen Theil der möglichen Verwandtschaftsverhältnisse und Entwickelungs¬
richtungen darzustellen. Man hat, ich weiß nicht mit wie vielem Rechte, seine uns
bekannte Entwickelung eine absteigende genannt, und man pflegt noch heute zu be¬
streiten, daß er wirkliche Mischsprachen enthalte. Sicher ist, daß sich in vielen
andern Sprachenfamilien ein lebendigeres Bewußtsein vom Werthe der Bildungs¬

Unſere Zeit.
iſt dies Sprachvermögen Gegenſtand der Linguiſtik oder nicht? Und wenn es das
iſt, muß es dann nicht durch die Linguiſtik definirt werden? Wie aber ſoll man
es definiren, ſolange man nicht den ganzen Umfang ſeiner Aeußerungen, ſolange
man nicht alle Möglichkeiten der Sprachentwickelung kennt? Die Naturforſcher
lehren uns täglich, daß die niedern Organismen für die Wiſſenſchaft nicht minder
belangreich ſind als die höhern; unſere Etymologen ſuchen in der höhern Sprach¬
form die niedere als aufgehobenes Moment zu entdecken, und wer Darwin's Lehre
auf die Sprachwiſſenſchaft anwenden will, der muß folgerichtig annehmen, daß
auch unſere Sprachen vor Jahrtauſenden nicht reicher und feiner geweſen ſeien
als jene der roheſten uns bekannten Völkerſchaften. Es dürfte viel Phantaſie dazu
gehören, ſich ohne lebende Vorbilder einen derartigen Urzuſtand zu vergegenwärtigen,
und unſere Sprachanatomen haben manche Anregung zu hoffen von jenen Aermſten
und Schwächſten der Sprachenwelt.

Und muß denn eine Sprache todt ſein, damit ſie unſer Intereſſe verdiene?
Oder muß ihre Vorgeſchichte zugänglich ſein, damit ihre Erforſchung lohne?
Heutzutage veranſchlagt man das Alter des Menſchengeſchlechts ſo hoch, weiß man
von der verſchiedenen Lebensgeſchwindigkeit der Sprachen ſo viel, man
wol zweifeln darf, ob das, was vor 4000 Jahren aus unſerer Vorfahren Mund
erklungen, den älteſten Formen menſchlicher Rede ähnlicher geweſen als die eine
oder andere der jetztlebenden Sprachen oder etwa das Gelalle unſerer Kinder.

Es iſt dies ein nebenſächlicher Geſichtspunkt; denn man erforſcht nicht die eine
Sprachform, um dieſe oder jene andere beſſer zu begreifen, ſondern um ein reicheres,
volleres, wahreres Bild von der Mannichfaltigkeit der Sprachorganismen zu ge¬
winnen. Es leuchtet ein, daß zu dieſem Zwecke nicht ein oberflächliches Nippen
an dieſer oder jener Grammatik genügt. Nur wenn eine Sprache zu einem Theil
unſers Ich geworden iſt, können wir über ſie, über ihre Vorzüge und Schwächen
urtheilen. In einem ſehr beliebten und verbreiteten Buche können wir freilich das
Gegentheil leſen: ein Selbſtlob der Leichtfertigkeit, das ſeinesgleichen ſucht!

Daß Völkerkunde und Linguiſtik eine ebenſo ſorgfältige Unterſuchung aller
Sprachfamilien erheiſchen, wie ſie dermalen für den indoeuropäiſchen Stamm ge¬
führt wird, möchte keines Beweiſes bedürfen. Namhaftes iſt in dieſer Richtung
bereits geleiſtet, viel mehr aber noch zu thun. Daß wir uns meiſt ohne alte
Sprachen behelfen müſſen, muß uns zu doppelter Vorſicht, zu einem ganz behut¬
ſamen Fortſchreiten vom Nächſten zum Entferntern veranlaſſen. Der Erfolg kann
bei ſorgſam methodiſchem Vorgehen nicht ausbleiben; der Gewinn aber wird ein
doppelter ſein. Zunächſt eine Vervollſtändigung und Berichtigung unſerer Kenntniß
von der Abgrenzung der Sprachſtämme nach außen und von ihrer Gliederung
nach innen. Dann aber auch, oder ich müßte mich ſehr täuſchen, eine Bereicherung
der Sprachphiloſophie ſelbſt. Der indogermaniſche Sprachſtamm ſcheint nämlich
nur einen Theil der möglichen Verwandtſchaftsverhältniſſe und Entwickelungs¬
richtungen darzuſtellen. Man hat, ich weiß nicht mit wie vielem Rechte, ſeine uns
bekannte Entwickelung eine abſteigende genannt, und man pflegt noch heute zu be¬
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[288/0017] Unſere Zeit. iſt dies Sprachvermögen Gegenſtand der Linguiſtik oder nicht? Und wenn es das iſt, muß es dann nicht durch die Linguiſtik definirt werden? Wie aber ſoll man es definiren, ſolange man nicht den ganzen Umfang ſeiner Aeußerungen, ſolange man nicht alle Möglichkeiten der Sprachentwickelung kennt? Die Naturforſcher lehren uns täglich, daß die niedern Organismen für die Wiſſenſchaft nicht minder belangreich ſind als die höhern; unſere Etymologen ſuchen in der höhern Sprach¬ form die niedere als aufgehobenes Moment zu entdecken, und wer Darwin's Lehre auf die Sprachwiſſenſchaft anwenden will, der muß folgerichtig annehmen, daß auch unſere Sprachen vor Jahrtauſenden nicht reicher und feiner geweſen ſeien als jene der roheſten uns bekannten Völkerſchaften. Es dürfte viel Phantaſie dazu gehören, ſich ohne lebende Vorbilder einen derartigen Urzuſtand zu vergegenwärtigen, und unſere Sprachanatomen haben manche Anregung zu hoffen von jenen Aermſten und Schwächſten der Sprachenwelt. Und muß denn eine Sprache todt ſein, damit ſie unſer Intereſſe verdiene? Oder muß ihre Vorgeſchichte zugänglich ſein, damit ihre Erforſchung lohne? Heutzutage veranſchlagt man das Alter des Menſchengeſchlechts ſo hoch, weiß man von der verſchiedenen Lebensgeſchwindigkeit der Sprachen ſo viel, man wol zweifeln darf, ob das, was vor 4000 Jahren aus unſerer Vorfahren Mund erklungen, den älteſten Formen menſchlicher Rede ähnlicher geweſen als die eine oder andere der jetztlebenden Sprachen oder etwa das Gelalle unſerer Kinder. Es iſt dies ein nebenſächlicher Geſichtspunkt; denn man erforſcht nicht die eine Sprachform, um dieſe oder jene andere beſſer zu begreifen, ſondern um ein reicheres, volleres, wahreres Bild von der Mannichfaltigkeit der Sprachorganismen zu ge¬ winnen. Es leuchtet ein, daß zu dieſem Zwecke nicht ein oberflächliches Nippen an dieſer oder jener Grammatik genügt. Nur wenn eine Sprache zu einem Theil unſers Ich geworden iſt, können wir über ſie, über ihre Vorzüge und Schwächen urtheilen. In einem ſehr beliebten und verbreiteten Buche können wir freilich das Gegentheil leſen: ein Selbſtlob der Leichtfertigkeit, das ſeinesgleichen ſucht! Daß Völkerkunde und Linguiſtik eine ebenſo ſorgfältige Unterſuchung aller Sprachfamilien erheiſchen, wie ſie dermalen für den indoeuropäiſchen Stamm ge¬ führt wird, möchte keines Beweiſes bedürfen. Namhaftes iſt in dieſer Richtung bereits geleiſtet, viel mehr aber noch zu thun. Daß wir uns meiſt ohne alte Sprachen behelfen müſſen, muß uns zu doppelter Vorſicht, zu einem ganz behut¬ ſamen Fortſchreiten vom Nächſten zum Entferntern veranlaſſen. Der Erfolg kann bei ſorgſam methodiſchem Vorgehen nicht ausbleiben; der Gewinn aber wird ein doppelter ſein. Zunächſt eine Vervollſtändigung und Berichtigung unſerer Kenntniß von der Abgrenzung der Sprachſtämme nach außen und von ihrer Gliederung nach innen. Dann aber auch, oder ich müßte mich ſehr täuſchen, eine Bereicherung der Sprachphiloſophie ſelbſt. Der indogermaniſche Sprachſtamm ſcheint nämlich nur einen Theil der möglichen Verwandtſchaftsverhältniſſe und Entwickelungs¬ richtungen darzuſtellen. Man hat, ich weiß nicht mit wie vielem Rechte, ſeine uns bekannte Entwickelung eine abſteigende genannt, und man pflegt noch heute zu be¬ ſtreiten, daß er wirkliche Miſchſprachen enthalte. Sicher iſt, daß ſich in vielen andern Sprachenfamilien ein lebendigeres Bewußtſein vom Werthe der Bildungs¬

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Zitationshilfe: Gabelentz, Georg von der: Die ostasiatischen Studien und die Sprachwissenschaft. In: Unsere Zeit, Jg. 1881, Bd. 1, S. 279-291, hier S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gabelentz_ostasiatische_1881/17>, abgerufen am 24.11.2024.