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Frölich, Henriette: Virginia oder die Kolonie von Kentucky. Bd. 1. Hrsg. v. Jerta. Berlin, 1820.

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richt für uns übrig; daher er sich, wiewohl un-
gern, entschloß, von seinem lieben Emil sich zu
trennen. Er brachte ihn nach Aix zu einem
seiner ältesten Schulfreunde, welcher dort Pro-
fessor am Lyceum war. Meine Mutter war
mit dieser Trennung sehr übel zufrieden; es be-
ruhigte sie nur wenig, daß ihr Liebling sich in
den Händen eines der rechtschaffensten, edelsten
Männer seiner Zeit befand, und sich in dessen Fa-
milie bald so einheimisch, als in unserm Hause
fühlte. Mir selbst kostete dieser Abschied un-
zählige Thränen, doch richtete ich mich an dem
Gedanken auf, daß es zum Besten meines
Bruders sey, ja ich beneidete ihn um sein
Loos. Er sollte ja Griechisch und Lateinisch ler-
nen, und konnte einst die Werke der Alten in
der Ursprache lesen, mein höchster Wunsch. Für
Emil war diese Aussicht nicht so reizend. Er
hatte kein gutes Wortgedächtniß, und das Er-
lernen fremder Sprachen wurde ihm sehr schwer;
dagegen rechnete er mit Leichtigkeit, und machte
Fortschritte in der Mathematik.



Erster Theil. [5]

richt fuͤr uns uͤbrig; daher er ſich, wiewohl un-
gern, entſchloß, von ſeinem lieben Emil ſich zu
trennen. Er brachte ihn nach Aix zu einem
ſeiner aͤlteſten Schulfreunde, welcher dort Pro-
feſſor am Lyceum war. Meine Mutter war
mit dieſer Trennung ſehr uͤbel zufrieden; es be-
ruhigte ſie nur wenig, daß ihr Liebling ſich in
den Haͤnden eines der rechtſchaffenſten, edelſten
Maͤnner ſeiner Zeit befand, und ſich in deſſen Fa-
milie bald ſo einheimiſch, als in unſerm Hauſe
fuͤhlte. Mir ſelbſt koſtete dieſer Abſchied un-
zaͤhlige Thraͤnen, doch richtete ich mich an dem
Gedanken auf, daß es zum Beſten meines
Bruders ſey, ja ich beneidete ihn um ſein
Loos. Er ſollte ja Griechiſch und Lateiniſch ler-
nen, und konnte einſt die Werke der Alten in
der Urſprache leſen, mein hoͤchſter Wunſch. Fuͤr
Emil war dieſe Ausſicht nicht ſo reizend. Er
hatte kein gutes Wortgedaͤchtniß, und das Er-
lernen fremder Sprachen wurde ihm ſehr ſchwer;
dagegen rechnete er mit Leichtigkeit, und machte
Fortſchritte in der Mathematik.



Erſter Theil. [5]
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[65/0075] richt fuͤr uns uͤbrig; daher er ſich, wiewohl un- gern, entſchloß, von ſeinem lieben Emil ſich zu trennen. Er brachte ihn nach Aix zu einem ſeiner aͤlteſten Schulfreunde, welcher dort Pro- feſſor am Lyceum war. Meine Mutter war mit dieſer Trennung ſehr uͤbel zufrieden; es be- ruhigte ſie nur wenig, daß ihr Liebling ſich in den Haͤnden eines der rechtſchaffenſten, edelſten Maͤnner ſeiner Zeit befand, und ſich in deſſen Fa- milie bald ſo einheimiſch, als in unſerm Hauſe fuͤhlte. Mir ſelbſt koſtete dieſer Abſchied un- zaͤhlige Thraͤnen, doch richtete ich mich an dem Gedanken auf, daß es zum Beſten meines Bruders ſey, ja ich beneidete ihn um ſein Loos. Er ſollte ja Griechiſch und Lateiniſch ler- nen, und konnte einſt die Werke der Alten in der Urſprache leſen, mein hoͤchſter Wunſch. Fuͤr Emil war dieſe Ausſicht nicht ſo reizend. Er hatte kein gutes Wortgedaͤchtniß, und das Er- lernen fremder Sprachen wurde ihm ſehr ſchwer; dagegen rechnete er mit Leichtigkeit, und machte Fortſchritte in der Mathematik. Erſter Theil. [5]

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Zitationshilfe: Frölich, Henriette: Virginia oder die Kolonie von Kentucky. Bd. 1. Hrsg. v. Jerta. Berlin, 1820, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/froelich_virginia01_1820/75>, abgerufen am 24.11.2024.