Abneigung gegen mich fest gesetzt zu haben. Jch entsinne mich, daß man mich in den ersten Wo- chen ihrer Krankheit sorgfältig abhielt, sie zu sehen, und daß ich viel darüber geweint. Auch während ihrer Genesung war sie anfangs nicht so gütig gegen mich, als sonst; überhaupt lenkte sich ihre Zärtlichkeit mehr auf meinen Bruder. Jch bemerkte dieß wohl, aber ohne Neid; denn ich selbst liebte den holden Emil über Alles. Du hast ihn wenig gekannt, den freundlichen herzigen Knaben. Er war immer heiter, immer voll Scherz und Fröhlichkeit, und dabei so bieder und treu. Wie hätte man ihn nicht lieben sollen! Ueberdieß war er ja ein Knabe, und schien mir schon deßhalb jedes Vor- zugs werth, je höher mir nach und nach die Wirksamkeit und Thatkraft des Mannes erschien. Jch weinte nur zuweilen im Stillen darüber, daß ich ein Mädchen war, eins der unbedeutenden We- sen, von welchen die Geschichte so wenig sagt, während die Thaten der Männer jedes Blatt füllen. Nur als Opfer werden sie genannt. Jphigenia, Virginia, nur Opfer für große Zwek- ke. So glaubte ich, leidende Gedult sey die
Abneigung gegen mich feſt geſetzt zu haben. Jch entſinne mich, daß man mich in den erſten Wo- chen ihrer Krankheit ſorgfaͤltig abhielt, ſie zu ſehen, und daß ich viel daruͤber geweint. Auch waͤhrend ihrer Geneſung war ſie anfangs nicht ſo guͤtig gegen mich, als ſonſt; uͤberhaupt lenkte ſich ihre Zaͤrtlichkeit mehr auf meinen Bruder. Jch bemerkte dieß wohl, aber ohne Neid; denn ich ſelbſt liebte den holden Emil uͤber Alles. Du haſt ihn wenig gekannt, den freundlichen herzigen Knaben. Er war immer heiter, immer voll Scherz und Froͤhlichkeit, und dabei ſo bieder und treu. Wie haͤtte man ihn nicht lieben ſollen! Ueberdieß war er ja ein Knabe, und ſchien mir ſchon deßhalb jedes Vor- zugs werth, je hoͤher mir nach und nach die Wirkſamkeit und Thatkraft des Mannes erſchien. Jch weinte nur zuweilen im Stillen daruͤber, daß ich ein Maͤdchen war, eins der unbedeutenden We- ſen, von welchen die Geſchichte ſo wenig ſagt, waͤhrend die Thaten der Maͤnner jedes Blatt fuͤllen. Nur als Opfer werden ſie genannt. Jphigenia, Virginia, nur Opfer fuͤr große Zwek- ke. So glaubte ich, leidende Gedult ſey die
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Abneigung gegen mich feſt geſetzt zu haben. Jch
entſinne mich, daß man mich in den erſten Wo-
chen ihrer Krankheit ſorgfaͤltig abhielt, ſie zu
ſehen, und daß ich viel daruͤber geweint. Auch
waͤhrend ihrer Geneſung war ſie anfangs nicht
ſo guͤtig gegen mich, als ſonſt; uͤberhaupt
lenkte ſich ihre Zaͤrtlichkeit mehr auf meinen
Bruder. Jch bemerkte dieß wohl, aber ohne
Neid; denn ich ſelbſt liebte den holden Emil
uͤber Alles. Du haſt ihn wenig gekannt, den
freundlichen herzigen Knaben. Er war immer
heiter, immer voll Scherz und Froͤhlichkeit, und
dabei ſo bieder und treu. Wie haͤtte man ihn
nicht lieben ſollen! Ueberdieß war er ja ein
Knabe, und ſchien mir ſchon deßhalb jedes Vor-
zugs werth, je hoͤher mir nach und nach die
Wirkſamkeit und Thatkraft des Mannes erſchien.
Jch weinte nur zuweilen im Stillen daruͤber, daß
ich ein Maͤdchen war, eins der unbedeutenden We-
ſen, von welchen die Geſchichte ſo wenig ſagt,
waͤhrend die Thaten der Maͤnner jedes Blatt
fuͤllen. Nur als Opfer werden ſie genannt.
Jphigenia, Virginia, nur Opfer fuͤr große Zwek-
ke. So glaubte ich, leidende Gedult ſey die
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Frölich, Henriette: Virginia oder die Kolonie von Kentucky. Bd. 1. Hrsg. v. Jerta. Berlin, 1820, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/froelich_virginia01_1820/69>, abgerufen am 16.02.2025.
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