Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.sie diese Beinschmerzen hatte, und durch deren Einwirkung dieselben jedesmal sich verstärkten, selbst bis zu einer doppelseitigen Beinlähmung mit Gefühlsverlust. Aehnlich ist es mit den Armschmerzen, nehmen wollen, weil sie ungerne an den Antheil erinnert sind, den eigenes Verschulden daran trägt. Man könnte meinen, dass die bei Neuropathen ausserhalb der Hysterie hervorgehobenen psychischen Bedingungen der Unwissenheit oder absichtlichen Vernachlässigung günstiger für die Entstehung einer falschen Verknüpfung sein müssen als das Vorhandensein einer Bewusstseinsspaltung, die doch dem Bewusstsein Material für causale Beziehung entzieht. Allein diese Spaltung ist selten eine reinliche, meist ragen Stücke des unterbewussten Vorstellungscomplexes in's gewöhnliche Bewusstsein hinein, und gerade diese geben den Anlass zu solchen Störungen. Gewöhnlich ist es die mit dem Complex verbundene Allgemeinempfindung, die Stimmung der Angst, der Trauer, die, wie im obigen Beispiel, bewusst empfunden wird und für die durch eine Art von "Zwang zur Association" eine Verknüpfung mit einem im Bewusstsein vorhandenen Vorstellungscomplex hergestellt werden muss. (Vgl. übrigens den Mechanismus der Zwangsvorstellung, den ich in einer Mittheilung im Neurolog. Centralblatt, Nr. 10 u. 11, 1894, angegeben habe. Auch: Obsessions et phobies, Revue neurologique, Nr. 2, 1895.) Von der Macht eines solchen Zwanges zur Association habe ich mich unlängst durch Beobachtungen auf anderem Gebiete überzeugen können. Ich musste durch mehrere Wochen mein gewohntes Bett mit einem härteren Lager vertauschen, auf dem ich wahrscheinlich mehr oder lebhafter träumte, vielleicht nur die normale Schlaftiefe nicht erreichen konnte. Ich wusste in der ersten Viertelstunde nach dem Erwachen alle Träume der Nacht und gab mir die Mühe, sie niederzuschreiben und mich an ihrer Lösung zu versuchen. Es gelang mir, diese Träume sämmtlich auf zwei Momente zurückzuführen: 1. auf die Nöthigung zur Ausarbeitung solcher Vorstellungen, bei denen ich tagsüber nur flüchtig verweilt hatte, die nur gestreift und nicht erledigt worden waren, und 2. auf den Zwang, die im selben Bewusstseinszustand vorhandenen Dinge mit einander zu verknüpfen. Auf das freie Walten des letzteren Momentes war das Sinnlose und Widerspruchsvolle der Träume zurückzuführen. Dass die zu einem Erlebniss gehörige Stimmung und der Inhalt desselben ganz regelmässig in abweichende Beziehung zum primären Bewusstsein treten können, habe ich an einer anderen Patientin, Frau Cäcilie M., gesehen, die ich weitaus gründlicher als jede andere hier erwähnte Kranke kennen lernte. Ich habe bei dieser Dame die zahlreichsten und überzeugendsten Beweise für einen solchen psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene gesammelt, wie wir ihn in dieser Arbeit vertreten, bin aber leider durch persönliche Umstände verhindert, diese Krankengeschichte, auf die ich mich gelegentlich zu beziehen gedenke, ausführlich mitzutheilen. Frau Cäcilie M. war zuletzt in einem eigenthümlichen hysterischen Zustande, der gewiss nicht vereinzelt dasteht, wenngleich ich nicht weiss, ob er je erkannt worden ist. Man könnte ihn als "hysterische Tilgungspsychose" bezeichnen. - Die Patientin hatte zahlreiche psychische Traumen erlebt und lange Jahre in einer chronischen Hysterie mit sehr mannigfaltigen Erscheinungen
sie diese Beinschmerzen hatte, und durch deren Einwirkung dieselben jedesmal sich verstärkten, selbst bis zu einer doppelseitigen Beinlähmung mit Gefühlsverlust. Aehnlich ist es mit den Armschmerzen, nehmen wollen, weil sie ungerne an den Antheil erinnert sind, den eigenes Verschulden daran trägt. Man könnte meinen, dass die bei Neuropathen ausserhalb der Hysterie hervorgehobenen psychischen Bedingungen der Unwissenheit oder absichtlichen Vernachlässigung günstiger für die Entstehung einer falschen Verknüpfung sein müssen als das Vorhandensein einer Bewusstseinsspaltung, die doch dem Bewusstsein Material für causale Beziehung entzieht. Allein diese Spaltung ist selten eine reinliche, meist ragen Stücke des unterbewussten Vorstellungscomplexes in’s gewöhnliche Bewusstsein hinein, und gerade diese geben den Anlass zu solchen Störungen. Gewöhnlich ist es die mit dem Complex verbundene Allgemeinempfindung, die Stimmung der Angst, der Trauer, die, wie im obigen Beispiel, bewusst empfunden wird und für die durch eine Art von „Zwang zur Association“ eine Verknüpfung mit einem im Bewusstsein vorhandenen Vorstellungscomplex hergestellt werden muss. (Vgl. übrigens den Mechanismus der Zwangsvorstellung, den ich in einer Mittheilung im Neurolog. Centralblatt, Nr. 10 u. 11, 1894, angegeben habe. Auch: Obsessions et phobies, Revue neurologique, Nr. 2, 1895.) Von der Macht eines solchen Zwanges zur Association habe ich mich unlängst durch Beobachtungen auf anderem Gebiete überzeugen können. Ich musste durch mehrere Wochen mein gewohntes Bett mit einem härteren Lager vertauschen, auf dem ich wahrscheinlich mehr oder lebhafter träumte, vielleicht nur die normale Schlaftiefe nicht erreichen konnte. Ich wusste in der ersten Viertelstunde nach dem Erwachen alle Träume der Nacht und gab mir die Mühe, sie niederzuschreiben und mich an ihrer Lösung zu versuchen. Es gelang mir, diese Träume sämmtlich auf zwei Momente zurückzuführen: 1. auf die Nöthigung zur Ausarbeitung solcher Vorstellungen, bei denen ich tagsüber nur flüchtig verweilt hatte, die nur gestreift und nicht erledigt worden waren, und 2. auf den Zwang, die im selben Bewusstseinszustand vorhandenen Dinge mit einander zu verknüpfen. Auf das freie Walten des letzteren Momentes war das Sinnlose und Widerspruchsvolle der Träume zurückzuführen. Dass die zu einem Erlebniss gehörige Stimmung und der Inhalt desselben ganz regelmässig in abweichende Beziehung zum primären Bewusstsein treten können, habe ich an einer anderen Patientin, Frau Cäcilie M., gesehen, die ich weitaus gründlicher als jede andere hier erwähnte Kranke kennen lernte. Ich habe bei dieser Dame die zahlreichsten und überzeugendsten Beweise für einen solchen psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene gesammelt, wie wir ihn in dieser Arbeit vertreten, bin aber leider durch persönliche Umstände verhindert, diese Krankengeschichte, auf die ich mich gelegentlich zu beziehen gedenke, ausführlich mitzutheilen. Frau Cäcilie M. war zuletzt in einem eigenthümlichen hysterischen Zustande, der gewiss nicht vereinzelt dasteht, wenngleich ich nicht weiss, ob er je erkannt worden ist. Man könnte ihn als „hysterische Tilgungspsychose“ bezeichnen. – Die Patientin hatte zahlreiche psychische Traumen erlebt und lange Jahre in einer chronischen Hysterie mit sehr mannigfaltigen Erscheinungen
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sie diese Beinschmerzen hatte, und durch deren Einwirkung dieselben jedesmal sich verstärkten, selbst bis zu einer doppelseitigen Beinlähmung mit Gefühlsverlust. Aehnlich ist es mit den Armschmerzen,
nehmen wollen, weil sie ungerne an den Antheil erinnert sind, den eigenes Verschulden daran trägt. Man könnte meinen, dass die bei Neuropathen ausserhalb der Hysterie hervorgehobenen psychischen Bedingungen der Unwissenheit oder absichtlichen Vernachlässigung günstiger für die Entstehung einer falschen Verknüpfung sein müssen als das Vorhandensein einer Bewusstseinsspaltung, die doch dem Bewusstsein Material für causale Beziehung entzieht. Allein diese Spaltung ist selten eine reinliche, meist ragen Stücke des unterbewussten Vorstellungscomplexes in’s gewöhnliche Bewusstsein hinein, und gerade diese geben den Anlass zu solchen Störungen. Gewöhnlich ist es die mit dem Complex verbundene Allgemeinempfindung, die Stimmung der Angst, der Trauer, die, wie im obigen Beispiel, bewusst empfunden wird und für die durch eine Art von „Zwang zur Association“ eine Verknüpfung mit einem im Bewusstsein vorhandenen Vorstellungscomplex hergestellt werden muss. (Vgl. übrigens den Mechanismus der Zwangsvorstellung, den ich in einer Mittheilung im Neurolog. Centralblatt, Nr. 10 u. 11, 1894, angegeben habe. Auch: Obsessions et phobies, Revue neurologique, Nr. 2, 1895.) Von der Macht eines solchen Zwanges zur Association habe ich mich unlängst durch Beobachtungen auf anderem Gebiete überzeugen können. Ich musste durch mehrere Wochen mein gewohntes Bett mit einem härteren Lager vertauschen, auf dem ich wahrscheinlich mehr oder lebhafter träumte, vielleicht nur die normale Schlaftiefe nicht erreichen konnte. Ich wusste in der ersten Viertelstunde nach dem Erwachen alle Träume der Nacht und gab mir die Mühe, sie niederzuschreiben und mich an ihrer Lösung zu versuchen. Es gelang mir, diese Träume sämmtlich auf zwei Momente zurückzuführen: 1. auf die Nöthigung zur Ausarbeitung solcher Vorstellungen, bei denen ich tagsüber nur flüchtig verweilt hatte, die nur gestreift und nicht erledigt worden waren, und 2. auf den Zwang, die im selben Bewusstseinszustand vorhandenen Dinge mit einander zu verknüpfen. Auf das freie Walten des letzteren Momentes war das Sinnlose und Widerspruchsvolle der Träume zurückzuführen.
Dass die zu einem Erlebniss gehörige Stimmung und der Inhalt desselben ganz regelmässig in abweichende Beziehung zum primären Bewusstsein treten können, habe ich an einer anderen Patientin, Frau Cäcilie M., gesehen, die ich weitaus gründlicher als jede andere hier erwähnte Kranke kennen lernte. Ich habe bei dieser Dame die zahlreichsten und überzeugendsten Beweise für einen solchen psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene gesammelt, wie wir ihn in dieser Arbeit vertreten, bin aber leider durch persönliche Umstände verhindert, diese Krankengeschichte, auf die ich mich gelegentlich zu beziehen gedenke, ausführlich mitzutheilen. Frau Cäcilie M. war zuletzt in einem eigenthümlichen hysterischen Zustande, der gewiss nicht vereinzelt dasteht, wenngleich ich nicht weiss, ob er je erkannt worden ist. Man könnte ihn als „hysterische Tilgungspsychose“ bezeichnen. – Die Patientin hatte zahlreiche psychische Traumen erlebt und lange Jahre in einer chronischen Hysterie mit sehr mannigfaltigen Erscheinungen
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