Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

zurückführen lassen. Sie waren aber in der Erinnerung der Kranken so deutlich getrennt, dass, wenn sie sich einmal in der Reihenfolge irrte, die richtige Ordnung corrigirend hergestellt werden musste, sonst stockte das Referat. Die erzählten Begebenheiten liessen in ihrer Interesse- und Bedeutungslosigkeit und bei der Präcision der Erzählung den Verdacht nicht aufkommen, sie seien erfunden. Viele dieser Vorfälle, als rein innere Erlebnisse, entzogen sich der Controle. An andere oder die begleitenden Umstände erinnerte sich die Umgebung der Kranken.

Es geschah auch hier, was regelmässig zu beobachten war, während ein Symptom "abgesprochen" wurde: dieses trat mit erhöhter Intensität auf, während es erzählt wurde. So war Patientin während der Analyse des Nichthörens so taub, dass ich theilweise schriftlich mich mit ihr verständigen musste. Regelmässig war der erste Anlass irgend ein Schrecken, den sie bei der Pflege der Vaters erlebt, ein Uebersehen ihrerseits oder dgl.

Nicht immer ging das Erinnern leicht von statten, und manchmal musste die Kranke gewaltige Anstrengungen machen. So stockte einmal der ganze Fortgang eine zeitlang, weil eine Erinnerung nicht auftauchen wollte; es handelte sich um eine der Kranken sehr schreckliche Hallucination, sie hatte ihren Vater, den sie pflegte, mit einem Todtenkopfe gesehen. Sie und ihre Umgebung erinnerten, dass sie einmal, noch in scheinbarer Gesundheit, einen Besuch bei einer Verwandten gemacht, die Thür geöffnet habe und sogleich bewusstlos niedergefallen sei. Um nun das Hinderniss zu überwinden, ging sie jetzt wieder dorthin und stürzte wieder beim Eintritt ins Zimmer bewusstlos zu Boden. In der Abendhypnose war dann das Hinderniss überwunden; sie hatte beim Eintritt in dem der Thür gegenüberstehenden Spiegel ihr bleiches Gesicht erblickt, aber nicht sich, sondern ihren Vater mit einem Todtenkopf gesehen. - Wir haben oft beobachtet, dass die Furcht vor einer Erinnerung, wie es hier geschehen, ihr Auftauchen hemmt, und dieses durch Patientin oder Arzt erzwungen werden muss.

Wie stark die innere Logik der Zustände war, zeigte unter anderem folgendes. Patientin war, wie bemerkt, in dieser Zeit Nachts immer in ihrer "condition seconde", also im Jahre 1881. Einmal erwachte sie in der Nacht, behauptete, sie sei wieder von Hause weggebracht worden, kam in einen schlimmen Aufregungszustand, der das ganze Haus alarmirte. Der Grund war einfach. Am vorhergehenden

zurückführen lassen. Sie waren aber in der Erinnerung der Kranken so deutlich getrennt, dass, wenn sie sich einmal in der Reihenfolge irrte, die richtige Ordnung corrigirend hergestellt werden musste, sonst stockte das Referat. Die erzählten Begebenheiten liessen in ihrer Interesse- und Bedeutungslosigkeit und bei der Präcision der Erzählung den Verdacht nicht aufkommen, sie seien erfunden. Viele dieser Vorfälle, als rein innere Erlebnisse, entzogen sich der Controle. An andere oder die begleitenden Umstände erinnerte sich die Umgebung der Kranken.

Es geschah auch hier, was regelmässig zu beobachten war, während ein Symptom „abgesprochen“ wurde: dieses trat mit erhöhter Intensität auf, während es erzählt wurde. So war Patientin während der Analyse des Nichthörens so taub, dass ich theilweise schriftlich mich mit ihr verständigen musste. Regelmässig war der erste Anlass irgend ein Schrecken, den sie bei der Pflege der Vaters erlebt, ein Uebersehen ihrerseits oder dgl.

Nicht immer ging das Erinnern leicht von statten, und manchmal musste die Kranke gewaltige Anstrengungen machen. So stockte einmal der ganze Fortgang eine zeitlang, weil eine Erinnerung nicht auftauchen wollte; es handelte sich um eine der Kranken sehr schreckliche Hallucination, sie hatte ihren Vater, den sie pflegte, mit einem Todtenkopfe gesehen. Sie und ihre Umgebung erinnerten, dass sie einmal, noch in scheinbarer Gesundheit, einen Besuch bei einer Verwandten gemacht, die Thür geöffnet habe und sogleich bewusstlos niedergefallen sei. Um nun das Hinderniss zu überwinden, ging sie jetzt wieder dorthin und stürzte wieder beim Eintritt ins Zimmer bewusstlos zu Boden. In der Abendhypnose war dann das Hinderniss überwunden; sie hatte beim Eintritt in dem der Thür gegenüberstehenden Spiegel ihr bleiches Gesicht erblickt, aber nicht sich, sondern ihren Vater mit einem Todtenkopf gesehen. – Wir haben oft beobachtet, dass die Furcht vor einer Erinnerung, wie es hier geschehen, ihr Auftauchen hemmt, und dieses durch Patientin oder Arzt erzwungen werden muss.

Wie stark die innere Logik der Zustände war, zeigte unter anderem folgendes. Patientin war, wie bemerkt, in dieser Zeit Nachts immer in ihrer „condition seconde“, also im Jahre 1881. Einmal erwachte sie in der Nacht, behauptete, sie sei wieder von Hause weggebracht worden, kam in einen schlimmen Aufregungszustand, der das ganze Haus alarmirte. Der Grund war einfach. Am vorhergehenden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0035" n="29"/>
zurückführen lassen. Sie waren aber in der Erinnerung der Kranken so deutlich getrennt, dass, wenn sie sich einmal in der Reihenfolge irrte, die richtige Ordnung corrigirend hergestellt werden musste, sonst stockte das Referat. Die erzählten Begebenheiten liessen in ihrer Interesse- und Bedeutungslosigkeit und bei der Präcision der Erzählung den Verdacht nicht aufkommen, sie seien erfunden. Viele dieser Vorfälle, als rein innere Erlebnisse, entzogen sich der Controle. An andere oder die begleitenden Umstände erinnerte sich die Umgebung der Kranken.</p>
          <p>Es geschah auch hier, was regelmässig zu beobachten war, während ein Symptom &#x201E;abgesprochen&#x201C; wurde: dieses trat mit erhöhter Intensität auf, während es erzählt wurde. So war Patientin während der Analyse des Nichthörens so taub, dass ich theilweise schriftlich mich mit ihr verständigen musste. Regelmässig war der erste Anlass irgend ein Schrecken, den sie bei der Pflege der Vaters erlebt, ein Uebersehen ihrerseits oder dgl.</p>
          <p>Nicht immer ging das Erinnern leicht von statten, und manchmal musste die Kranke gewaltige Anstrengungen machen. So stockte einmal der ganze Fortgang eine zeitlang, weil eine Erinnerung nicht auftauchen wollte; es handelte sich um eine der Kranken sehr schreckliche Hallucination, sie hatte ihren Vater, den sie pflegte, mit einem Todtenkopfe gesehen. Sie und ihre Umgebung erinnerten, dass sie einmal, noch in scheinbarer Gesundheit, einen Besuch bei einer Verwandten gemacht, die Thür geöffnet habe und sogleich bewusstlos niedergefallen sei. Um nun das Hinderniss zu überwinden, ging sie jetzt wieder dorthin und stürzte wieder beim Eintritt ins Zimmer bewusstlos zu Boden. In der Abendhypnose war dann das Hinderniss überwunden; sie hatte beim Eintritt in dem der Thür gegenüberstehenden Spiegel ihr bleiches Gesicht erblickt, aber nicht sich, sondern ihren Vater mit einem Todtenkopf gesehen. &#x2013; Wir haben oft beobachtet, dass die Furcht vor einer Erinnerung, wie es hier geschehen, ihr Auftauchen hemmt, und dieses durch Patientin oder Arzt erzwungen werden muss.</p>
          <p>Wie stark die innere Logik der Zustände war, zeigte unter anderem folgendes. Patientin war, wie bemerkt, in dieser Zeit Nachts immer in ihrer &#x201E;condition seconde&#x201C;, also im Jahre 1881. Einmal erwachte sie in der Nacht, behauptete, sie sei wieder von Hause weggebracht worden, kam in einen schlimmen Aufregungszustand, der das ganze Haus alarmirte. Der Grund war einfach. Am vorhergehenden
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[29/0035] zurückführen lassen. Sie waren aber in der Erinnerung der Kranken so deutlich getrennt, dass, wenn sie sich einmal in der Reihenfolge irrte, die richtige Ordnung corrigirend hergestellt werden musste, sonst stockte das Referat. Die erzählten Begebenheiten liessen in ihrer Interesse- und Bedeutungslosigkeit und bei der Präcision der Erzählung den Verdacht nicht aufkommen, sie seien erfunden. Viele dieser Vorfälle, als rein innere Erlebnisse, entzogen sich der Controle. An andere oder die begleitenden Umstände erinnerte sich die Umgebung der Kranken. Es geschah auch hier, was regelmässig zu beobachten war, während ein Symptom „abgesprochen“ wurde: dieses trat mit erhöhter Intensität auf, während es erzählt wurde. So war Patientin während der Analyse des Nichthörens so taub, dass ich theilweise schriftlich mich mit ihr verständigen musste. Regelmässig war der erste Anlass irgend ein Schrecken, den sie bei der Pflege der Vaters erlebt, ein Uebersehen ihrerseits oder dgl. Nicht immer ging das Erinnern leicht von statten, und manchmal musste die Kranke gewaltige Anstrengungen machen. So stockte einmal der ganze Fortgang eine zeitlang, weil eine Erinnerung nicht auftauchen wollte; es handelte sich um eine der Kranken sehr schreckliche Hallucination, sie hatte ihren Vater, den sie pflegte, mit einem Todtenkopfe gesehen. Sie und ihre Umgebung erinnerten, dass sie einmal, noch in scheinbarer Gesundheit, einen Besuch bei einer Verwandten gemacht, die Thür geöffnet habe und sogleich bewusstlos niedergefallen sei. Um nun das Hinderniss zu überwinden, ging sie jetzt wieder dorthin und stürzte wieder beim Eintritt ins Zimmer bewusstlos zu Boden. In der Abendhypnose war dann das Hinderniss überwunden; sie hatte beim Eintritt in dem der Thür gegenüberstehenden Spiegel ihr bleiches Gesicht erblickt, aber nicht sich, sondern ihren Vater mit einem Todtenkopf gesehen. – Wir haben oft beobachtet, dass die Furcht vor einer Erinnerung, wie es hier geschehen, ihr Auftauchen hemmt, und dieses durch Patientin oder Arzt erzwungen werden muss. Wie stark die innere Logik der Zustände war, zeigte unter anderem folgendes. Patientin war, wie bemerkt, in dieser Zeit Nachts immer in ihrer „condition seconde“, also im Jahre 1881. Einmal erwachte sie in der Nacht, behauptete, sie sei wieder von Hause weggebracht worden, kam in einen schlimmen Aufregungszustand, der das ganze Haus alarmirte. Der Grund war einfach. Am vorhergehenden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/35
Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/35>, abgerufen am 11.12.2024.