Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.wenn nicht ein geheimes Tagebuch der Mutter aus dem Jahre 1881 die unverbrüchliche Richtigkeit der zu Grunde liegenden Thatsachen bewiesen hätte. Dieses Wiederdurchleben des verflossenen Jahres dauerte fort bis zum definitiven Abschluss der Krankheit im Juni 1882. Dabei war es sehr interessant zu sehen, wie auch diese wiederauflebenden psychischen Reize aus dem zweiten Zustand in den ersten, normaleren herüberwirkten. Es kam vor, dass die Kranke mir am Morgen lachend sagte, sie wisse nicht, was sie habe, sie sei böse auf mich; dank dem Tagebuch wusste ich, um was es sich handelte und was auch richtig in der Abendhypnose wieder durchgemacht wurde. Ich hatte Patientin im Jahre 1881 an diesem Abend sehr geärgert. Oder sie sagte, es sei was mit ihren Augen los, sie sehe die Farben falsch; sie wisse, dass ihr Kleid braun sei, und doch sehe sie es blau. Es zeigte sich alsbald, dass sie alle Farben der Prüfungspapiere richtig und scharf unterschied, und dass die Störung nur an dem Stoff ihres Kleides hafte. Der Grund war, dass sie sich 1881 in diesen Tagen sehr mit einem Schlafrock für den Vater beschäftigt hatte, an dem derselbe Stoff, aber blau, verwendet war. Auch war dabei oft ein Vorwirken dieser auftauchenden Erinnerungen deutlich, indem die Störung des normalen Zustandes schon früher eintrat, während die Erinnerung erst allmählich für die condition seconde erwachte. War die Abendhypnose schon hiedurch reichlich belastet, da nicht bloss die Phantasmen frischer Production, sondern auch die Erlebnisse und die "vexations" von 1881 abgesprochen werden mussten, (die Phantasmen von 1881 hatte ich glücklicherweise schon damals abgenommen), so nahm die von Patientin und Arzt zu leistende Arbeitsumme noch enorm zu durch eine dritte Reihe von Einzelstörungen, die ebenfalls auf diese Weise erledigt werden mussten, die psychischen Ereignisse der Krankheitsincubation von Juli bis December 1880, welche die gesammten hysterischen Phänomene erzeugt hatten und mit deren Aussprache die Symptome verschwanden. Als das erstemal durch ein zufälliges, unprovocirtes Aussprechen in der Abendhypnose eine Störung verschwand, die schon länger bestanden hatte, war ich sehr überrascht. Es war im Sommer eine Zeit intensiver Hitze gewesen, und Patientin hatte sehr arg durch Durst gelitten; denn, ohne einen Grund angeben zu können, war ihr plötzlich unmöglich geworden, zu trinken. Sie nahm das ersehnte Glas Wasser in die Hand, aber so wie es die Lippen berührte, stiess sie es weg wie ein Hydrophobischer. Dabei war sie offenbar für diese wenn nicht ein geheimes Tagebuch der Mutter aus dem Jahre 1881 die unverbrüchliche Richtigkeit der zu Grunde liegenden Thatsachen bewiesen hätte. Dieses Wiederdurchleben des verflossenen Jahres dauerte fort bis zum definitiven Abschluss der Krankheit im Juni 1882. Dabei war es sehr interessant zu sehen, wie auch diese wiederauflebenden psychischen Reize aus dem zweiten Zustand in den ersten, normaleren herüberwirkten. Es kam vor, dass die Kranke mir am Morgen lachend sagte, sie wisse nicht, was sie habe, sie sei böse auf mich; dank dem Tagebuch wusste ich, um was es sich handelte und was auch richtig in der Abendhypnose wieder durchgemacht wurde. Ich hatte Patientin im Jahre 1881 an diesem Abend sehr geärgert. Oder sie sagte, es sei was mit ihren Augen los, sie sehe die Farben falsch; sie wisse, dass ihr Kleid braun sei, und doch sehe sie es blau. Es zeigte sich alsbald, dass sie alle Farben der Prüfungspapiere richtig und scharf unterschied, und dass die Störung nur an dem Stoff ihres Kleides hafte. Der Grund war, dass sie sich 1881 in diesen Tagen sehr mit einem Schlafrock für den Vater beschäftigt hatte, an dem derselbe Stoff, aber blau, verwendet war. Auch war dabei oft ein Vorwirken dieser auftauchenden Erinnerungen deutlich, indem die Störung des normalen Zustandes schon früher eintrat, während die Erinnerung erst allmählich für die condition seconde erwachte. War die Abendhypnose schon hiedurch reichlich belastet, da nicht bloss die Phantasmen frischer Production, sondern auch die Erlebnisse und die „vexations“ von 1881 abgesprochen werden mussten, (die Phantasmen von 1881 hatte ich glücklicherweise schon damals abgenommen), so nahm die von Patientin und Arzt zu leistende Arbeitsumme noch enorm zu durch eine dritte Reihe von Einzelstörungen, die ebenfalls auf diese Weise erledigt werden mussten, die psychischen Ereignisse der Krankheitsincubation von Juli bis December 1880, welche die gesammten hysterischen Phänomene erzeugt hatten und mit deren Aussprache die Symptome verschwanden. Als das erstemal durch ein zufälliges, unprovocirtes Aussprechen in der Abendhypnose eine Störung verschwand, die schon länger bestanden hatte, war ich sehr überrascht. Es war im Sommer eine Zeit intensiver Hitze gewesen, und Patientin hatte sehr arg durch Durst gelitten; denn, ohne einen Grund angeben zu können, war ihr plötzlich unmöglich geworden, zu trinken. Sie nahm das ersehnte Glas Wasser in die Hand, aber so wie es die Lippen berührte, stiess sie es weg wie ein Hydrophobischer. Dabei war sie offenbar für diese <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0032" n="26"/> wenn nicht ein geheimes Tagebuch der Mutter aus dem Jahre 1881 die unverbrüchliche Richtigkeit der zu Grunde liegenden Thatsachen bewiesen hätte. Dieses Wiederdurchleben des verflossenen Jahres dauerte fort bis zum definitiven Abschluss der Krankheit im Juni 1882.</p> <p>Dabei war es sehr interessant zu sehen, wie auch diese wiederauflebenden psychischen Reize aus dem zweiten Zustand in den ersten, normaleren herüberwirkten. Es kam vor, dass die Kranke mir am Morgen lachend sagte, sie wisse nicht, was sie habe, sie sei böse auf mich; dank dem Tagebuch wusste ich, um was es sich handelte und was auch richtig in der Abendhypnose wieder durchgemacht wurde. Ich hatte Patientin im Jahre 1881 an diesem Abend sehr geärgert. Oder sie sagte, es sei was mit ihren Augen los, sie sehe die Farben falsch; sie wisse, dass ihr Kleid braun sei, und doch sehe sie es blau. Es zeigte sich alsbald, dass sie alle Farben der Prüfungspapiere richtig und scharf unterschied, und dass die Störung nur an dem Stoff ihres Kleides hafte. Der Grund war, dass sie sich 1881 in diesen Tagen sehr mit einem Schlafrock für den Vater beschäftigt hatte, an dem derselbe Stoff, aber blau, verwendet war. Auch war dabei oft ein Vorwirken dieser auftauchenden Erinnerungen deutlich, indem die Störung des normalen Zustandes schon früher eintrat, während die Erinnerung erst allmählich für die condition seconde erwachte.</p> <p>War die Abendhypnose schon hiedurch reichlich belastet, da nicht bloss die Phantasmen frischer Production, sondern auch die Erlebnisse und die „vexations“ von 1881 abgesprochen werden mussten, (die Phantasmen von 1881 hatte ich glücklicherweise schon damals abgenommen), so nahm die von Patientin und Arzt zu leistende Arbeitsumme noch enorm zu durch eine dritte Reihe von Einzelstörungen, die ebenfalls auf diese Weise erledigt werden mussten, die psychischen <hi rendition="#g">Ereignisse der Krankheitsincubation</hi> von Juli bis December 1880, welche die gesammten hysterischen Phänomene erzeugt hatten und mit deren Aussprache die <hi rendition="#g">Symptome verschwanden</hi>.</p> <p>Als das erstemal durch ein zufälliges, unprovocirtes Aussprechen in der Abendhypnose eine Störung verschwand, die schon länger bestanden hatte, war ich sehr überrascht. Es war im Sommer eine Zeit intensiver Hitze gewesen, und Patientin hatte sehr arg durch Durst gelitten; denn, ohne einen Grund angeben zu können, war ihr plötzlich unmöglich geworden, zu trinken. Sie nahm das ersehnte Glas Wasser in die Hand, aber so wie es die Lippen berührte, stiess sie es weg wie ein Hydrophobischer. Dabei war sie offenbar für diese </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [26/0032]
wenn nicht ein geheimes Tagebuch der Mutter aus dem Jahre 1881 die unverbrüchliche Richtigkeit der zu Grunde liegenden Thatsachen bewiesen hätte. Dieses Wiederdurchleben des verflossenen Jahres dauerte fort bis zum definitiven Abschluss der Krankheit im Juni 1882.
Dabei war es sehr interessant zu sehen, wie auch diese wiederauflebenden psychischen Reize aus dem zweiten Zustand in den ersten, normaleren herüberwirkten. Es kam vor, dass die Kranke mir am Morgen lachend sagte, sie wisse nicht, was sie habe, sie sei böse auf mich; dank dem Tagebuch wusste ich, um was es sich handelte und was auch richtig in der Abendhypnose wieder durchgemacht wurde. Ich hatte Patientin im Jahre 1881 an diesem Abend sehr geärgert. Oder sie sagte, es sei was mit ihren Augen los, sie sehe die Farben falsch; sie wisse, dass ihr Kleid braun sei, und doch sehe sie es blau. Es zeigte sich alsbald, dass sie alle Farben der Prüfungspapiere richtig und scharf unterschied, und dass die Störung nur an dem Stoff ihres Kleides hafte. Der Grund war, dass sie sich 1881 in diesen Tagen sehr mit einem Schlafrock für den Vater beschäftigt hatte, an dem derselbe Stoff, aber blau, verwendet war. Auch war dabei oft ein Vorwirken dieser auftauchenden Erinnerungen deutlich, indem die Störung des normalen Zustandes schon früher eintrat, während die Erinnerung erst allmählich für die condition seconde erwachte.
War die Abendhypnose schon hiedurch reichlich belastet, da nicht bloss die Phantasmen frischer Production, sondern auch die Erlebnisse und die „vexations“ von 1881 abgesprochen werden mussten, (die Phantasmen von 1881 hatte ich glücklicherweise schon damals abgenommen), so nahm die von Patientin und Arzt zu leistende Arbeitsumme noch enorm zu durch eine dritte Reihe von Einzelstörungen, die ebenfalls auf diese Weise erledigt werden mussten, die psychischen Ereignisse der Krankheitsincubation von Juli bis December 1880, welche die gesammten hysterischen Phänomene erzeugt hatten und mit deren Aussprache die Symptome verschwanden.
Als das erstemal durch ein zufälliges, unprovocirtes Aussprechen in der Abendhypnose eine Störung verschwand, die schon länger bestanden hatte, war ich sehr überrascht. Es war im Sommer eine Zeit intensiver Hitze gewesen, und Patientin hatte sehr arg durch Durst gelitten; denn, ohne einen Grund angeben zu können, war ihr plötzlich unmöglich geworden, zu trinken. Sie nahm das ersehnte Glas Wasser in die Hand, aber so wie es die Lippen berührte, stiess sie es weg wie ein Hydrophobischer. Dabei war sie offenbar für diese
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