Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.die Wärterin lernte sich einigermaassen so verständigen. Sie las aber französisch und italienisch; sollte sie es vorlesen, so las sie mit staunenerregender Geläufigkeit, fliessend, eine vortreffliche englische Uebersetzung des Gelesenen vom Blatte. Sie begann wieder zu schreiben, aber in eigenthümlicher Weise; sie schrieb mit der, gelenken, linken Hand, aber Antiqua-Druckbuchstaben, die sie sich aus ihrem Shakespeare zum Alphabet zusammen gesucht hatte. Hatte sie früher schon minimal Nahrung genommen, so verweigerte sie jetzt das Essen vollständig, liess sich aber von mir füttern, so dass ihre Ernährung rasch zunahm. Nur Brod zu essen verweigerte sie immer. Nach der Fütterung aber unterliess sie nie den Mund zu waschen, und that dies auch, wenn sie aus irgend einem Grunde nichts gegessen hatte; ein Zeichen, wie abwesend sie dabei war. Die Somnolenz am Nachmittag und der tiefe Sopor um Sonnenuntergang dauerten an. Hatte sie sich dann ausgesprochen (ich werde später genauer hierauf eingehen müssen) so war sie klar, ruhig, heiter. Dieser relativ erträgliche Zustand dauerte nicht lange. Etwa 10 Tage nach ihres Vaters Tod wurde ein Consiliarius beigezogen, den sie wie alle Fremden absolut ignorirte, als ich ihm all ihre Sonderbarkeiten demonstrirte. "That's like an examination" sagte sie lachend, als ich sie einen französischen Text auf englisch vorlesen liess. Der fremde Arzt sprach drein, versuchte sich ihr bemerklich zu machen; vergebens. Es war die richtige "negative Hallucination", die seitdem so oft experimentell hergestellt worden ist. Endlich gelang es ihm, diese zu durchbrechen, indem er ihr Hauch ins Gesicht blies. Plötzlich sah sie einen Fremden, stürzte zur Thüre, den Schlüssel abzuziehen, fiel bewusstlos zu Boden; dann folgte ein kurzer Zorn- und dann ein arger Angstanfall, den ich mit grosser Mühe beruhigte. Unglücklicherweise musste ich denselben Abend abreisen, und als ich nach mehreren Tagen zurückkam, fand ich die Kranke sehr verschlimmert. Sie hatte die ganze Zeit vollständig abstinirt, war voll Angstgefühlen, ihre hallucinatorischen Absencen erfüllt von Schreckgestalten, Todtenköpfen und Gerippen. Da sie, diese Dinge durchlebend, sie theilweise sprechend tragirte, kannte die Umgebung meist den Inhalt dieser Hallucinationen. Nachmittags Somnolenz, um Sonnenuntergang die tiefe Hypnose, für die sie den technischen Namen "clouds" (Wolken) gefunden hatte. Konnte sie dann die Hallucinationen des die Wärterin lernte sich einigermaassen so verständigen. Sie las aber französisch und italienisch; sollte sie es vorlesen, so las sie mit staunenerregender Geläufigkeit, fliessend, eine vortreffliche englische Uebersetzung des Gelesenen vom Blatte. Sie begann wieder zu schreiben, aber in eigenthümlicher Weise; sie schrieb mit der, gelenken, linken Hand, aber Antiqua-Druckbuchstaben, die sie sich aus ihrem Shakespeare zum Alphabet zusammen gesucht hatte. Hatte sie früher schon minimal Nahrung genommen, so verweigerte sie jetzt das Essen vollständig, liess sich aber von mir füttern, so dass ihre Ernährung rasch zunahm. Nur Brod zu essen verweigerte sie immer. Nach der Fütterung aber unterliess sie nie den Mund zu waschen, und that dies auch, wenn sie aus irgend einem Grunde nichts gegessen hatte; ein Zeichen, wie abwesend sie dabei war. Die Somnolenz am Nachmittag und der tiefe Sopor um Sonnenuntergang dauerten an. Hatte sie sich dann ausgesprochen (ich werde später genauer hierauf eingehen müssen) so war sie klar, ruhig, heiter. Dieser relativ erträgliche Zustand dauerte nicht lange. Etwa 10 Tage nach ihres Vaters Tod wurde ein Consiliarius beigezogen, den sie wie alle Fremden absolut ignorirte, als ich ihm all ihre Sonderbarkeiten demonstrirte. „That’s like an examination“ sagte sie lachend, als ich sie einen französischen Text auf englisch vorlesen liess. Der fremde Arzt sprach drein, versuchte sich ihr bemerklich zu machen; vergebens. Es war die richtige „negative Hallucination“, die seitdem so oft experimentell hergestellt worden ist. Endlich gelang es ihm, diese zu durchbrechen, indem er ihr Hauch ins Gesicht blies. Plötzlich sah sie einen Fremden, stürzte zur Thüre, den Schlüssel abzuziehen, fiel bewusstlos zu Boden; dann folgte ein kurzer Zorn- und dann ein arger Angstanfall, den ich mit grosser Mühe beruhigte. Unglücklicherweise musste ich denselben Abend abreisen, und als ich nach mehreren Tagen zurückkam, fand ich die Kranke sehr verschlimmert. Sie hatte die ganze Zeit vollständig abstinirt, war voll Angstgefühlen, ihre hallucinatorischen Absencen erfüllt von Schreckgestalten, Todtenköpfen und Gerippen. Da sie, diese Dinge durchlebend, sie theilweise sprechend tragirte, kannte die Umgebung meist den Inhalt dieser Hallucinationen. Nachmittags Somnolenz, um Sonnenuntergang die tiefe Hypnose, für die sie den technischen Namen „clouds“ (Wolken) gefunden hatte. Konnte sie dann die Hallucinationen des <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0026" n="20"/> die Wärterin lernte sich einigermaassen so verständigen. Sie las aber französisch und italienisch; sollte sie es vorlesen, so las sie mit staunenerregender Geläufigkeit, fliessend, eine vortreffliche englische Uebersetzung des Gelesenen vom Blatte.</p> <p>Sie begann wieder zu schreiben, aber in eigenthümlicher Weise; sie schrieb mit der, gelenken, linken Hand, aber Antiqua-Druckbuchstaben, die sie sich aus ihrem Shakespeare zum Alphabet zusammen gesucht hatte.</p> <p>Hatte sie früher schon minimal Nahrung genommen, so verweigerte sie jetzt das Essen vollständig, liess sich aber von mir füttern, so dass ihre Ernährung rasch zunahm. Nur Brod zu essen verweigerte sie immer. Nach der Fütterung aber unterliess sie nie den Mund zu waschen, und that dies auch, wenn sie aus irgend einem Grunde nichts gegessen hatte; ein Zeichen, wie abwesend sie dabei war.</p> <p>Die Somnolenz am Nachmittag und der tiefe Sopor um Sonnenuntergang dauerten an. Hatte sie sich dann ausgesprochen (ich werde später genauer hierauf eingehen müssen) so war sie klar, ruhig, heiter.</p> <p>Dieser relativ erträgliche Zustand dauerte nicht lange. Etwa 10 Tage nach ihres Vaters Tod wurde ein Consiliarius beigezogen, den sie wie alle Fremden absolut ignorirte, als ich ihm all ihre Sonderbarkeiten demonstrirte. „That’s like an examination“ sagte sie lachend, als ich sie einen französischen Text auf englisch vorlesen liess. Der fremde Arzt sprach drein, versuchte sich ihr bemerklich zu machen; vergebens. Es war die richtige „negative Hallucination“, die seitdem so oft experimentell hergestellt worden ist. Endlich gelang es ihm, diese zu durchbrechen, indem er ihr Hauch ins Gesicht blies. Plötzlich sah sie einen Fremden, stürzte zur Thüre, den Schlüssel abzuziehen, fiel bewusstlos zu Boden; dann folgte ein kurzer Zorn- und dann ein arger Angstanfall, den ich mit grosser Mühe beruhigte. Unglücklicherweise musste ich denselben Abend abreisen, und als ich nach mehreren Tagen zurückkam, fand ich die Kranke sehr verschlimmert. Sie hatte die ganze Zeit vollständig abstinirt, war voll Angstgefühlen, ihre hallucinatorischen Absencen erfüllt von Schreckgestalten, Todtenköpfen und Gerippen. Da sie, diese Dinge durchlebend, sie theilweise sprechend tragirte, kannte die Umgebung meist den Inhalt dieser Hallucinationen. Nachmittags Somnolenz, um Sonnenuntergang die tiefe Hypnose, für die sie den technischen Namen „clouds“ (Wolken) gefunden hatte. Konnte sie dann die Hallucinationen des </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [20/0026]
die Wärterin lernte sich einigermaassen so verständigen. Sie las aber französisch und italienisch; sollte sie es vorlesen, so las sie mit staunenerregender Geläufigkeit, fliessend, eine vortreffliche englische Uebersetzung des Gelesenen vom Blatte.
Sie begann wieder zu schreiben, aber in eigenthümlicher Weise; sie schrieb mit der, gelenken, linken Hand, aber Antiqua-Druckbuchstaben, die sie sich aus ihrem Shakespeare zum Alphabet zusammen gesucht hatte.
Hatte sie früher schon minimal Nahrung genommen, so verweigerte sie jetzt das Essen vollständig, liess sich aber von mir füttern, so dass ihre Ernährung rasch zunahm. Nur Brod zu essen verweigerte sie immer. Nach der Fütterung aber unterliess sie nie den Mund zu waschen, und that dies auch, wenn sie aus irgend einem Grunde nichts gegessen hatte; ein Zeichen, wie abwesend sie dabei war.
Die Somnolenz am Nachmittag und der tiefe Sopor um Sonnenuntergang dauerten an. Hatte sie sich dann ausgesprochen (ich werde später genauer hierauf eingehen müssen) so war sie klar, ruhig, heiter.
Dieser relativ erträgliche Zustand dauerte nicht lange. Etwa 10 Tage nach ihres Vaters Tod wurde ein Consiliarius beigezogen, den sie wie alle Fremden absolut ignorirte, als ich ihm all ihre Sonderbarkeiten demonstrirte. „That’s like an examination“ sagte sie lachend, als ich sie einen französischen Text auf englisch vorlesen liess. Der fremde Arzt sprach drein, versuchte sich ihr bemerklich zu machen; vergebens. Es war die richtige „negative Hallucination“, die seitdem so oft experimentell hergestellt worden ist. Endlich gelang es ihm, diese zu durchbrechen, indem er ihr Hauch ins Gesicht blies. Plötzlich sah sie einen Fremden, stürzte zur Thüre, den Schlüssel abzuziehen, fiel bewusstlos zu Boden; dann folgte ein kurzer Zorn- und dann ein arger Angstanfall, den ich mit grosser Mühe beruhigte. Unglücklicherweise musste ich denselben Abend abreisen, und als ich nach mehreren Tagen zurückkam, fand ich die Kranke sehr verschlimmert. Sie hatte die ganze Zeit vollständig abstinirt, war voll Angstgefühlen, ihre hallucinatorischen Absencen erfüllt von Schreckgestalten, Todtenköpfen und Gerippen. Da sie, diese Dinge durchlebend, sie theilweise sprechend tragirte, kannte die Umgebung meist den Inhalt dieser Hallucinationen. Nachmittags Somnolenz, um Sonnenuntergang die tiefe Hypnose, für die sie den technischen Namen „clouds“ (Wolken) gefunden hatte. Konnte sie dann die Hallucinationen des
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/26 |
Zitationshilfe: | Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/26>, abgerufen am 16.07.2024. |