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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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einziges hysterisches Symptom, sondern eine Anzahl von solchen, die theils unabhängig von einander, theils mit einander verknüpft sind. Man darf nicht eine einzige traumatische Erinnerung und als Kern derselben eine einzige pathogene Vorstellung erwarten, sondern muss auf Reihen von Partialtraumen und Verkettungen von pathogenen Gedankengängen gefasst sein. Die monosymptomatische traumatische Hysterie ist gleichsam ein Elementarorganismus, ein einzelliges Wesen im Vergleich zum complicirten Gefüge einer schwereren hysterischen Neurose, wie wir ihr gemeinhin begegnen.

Das psychische Material einer solchen Hysterie stellt sich nun dar als ein mehrdimensionales Gebilde von mindestens dreifacher Schichtung. Ich hoffe, ich werde diese bildliche Ausdrucksweise bald rechtfertigen können. Es ist zunächst ein Kern vorhanden von solchen Erinnerungen (an Erlebnisse oder Gedankengänge), in denen das traumatische Moment gegipfelt, oder die pathogene Idee ihre reinste Ausbildung gefunden hat. Um diesen Kern herum findet man eine oft unglaublich reichliche Menge von anderem Erinnerungsmaterial, die man bei der Analyse durcharbeiten muss in, wie erwähnt, dreifacher Anordnung. Erstens ist eine lineare chronologische Anordnung unverkennbar, die innerhalb jedes einzelnen Themas statthat. Als Beispiel für diese citire ich bloss die Anordnungen in Breuer's Analyse der Anna O. Das Thema sei das des Taubwerdens, des Nichthörens (pag. 28); das differenzirte sich dann nach 7 Bedingungen, und unter jeder Ueberschrift waren 10 bis über 100 Einzelerinnerungen in chronologischer Reihenfolge gesammelt. Es war, als ob man ein, wohl in Ordnung gehaltenes, Archiv ausnehmen würde. In der Analyse meiner Patientin Emmy v. N ... sind ähnliche, wenn auch nicht so vollzählig dargestellte Erinnerungsfascikel enthalten: sie bilden aber ein ganz allgemeines Vorkommniss in jeder Analyse, treten jedesmal in einer chronologischen Ordnung auf, die so unfehlbar verlässlich ist wie die Reihenfolge der Wochentage oder Monatenamen beim geistig normalen Menschen, und erschweren die Arbeit der Analyse durch die Eigenthümlichkeit, dass sie die Reihenfolge ihrer Entstehung bei der Reproduction umkehren; das frischeste, jüngste Erlebniss des Fascikels kommt als "Deckblatt" zuerst, und den Schluss macht jener Eindruck, mit dem in Wirklichkeit die Reihe anfing.

Ich habe die Gruppirung gleichartiger Erinnerungen zu einer linear geschichteten Mehrheit, wie es ein Actenbündel, ein Paket udgl. darstellt, als Bildung eines Themas bezeichnet. Diese Themen nun

einziges hysterisches Symptom, sondern eine Anzahl von solchen, die theils unabhängig von einander, theils mit einander verknüpft sind. Man darf nicht eine einzige traumatische Erinnerung und als Kern derselben eine einzige pathogene Vorstellung erwarten, sondern muss auf Reihen von Partialtraumen und Verkettungen von pathogenen Gedankengängen gefasst sein. Die monosymptomatische traumatische Hysterie ist gleichsam ein Elementarorganismus, ein einzelliges Wesen im Vergleich zum complicirten Gefüge einer schwereren hysterischen Neurose, wie wir ihr gemeinhin begegnen.

Das psychische Material einer solchen Hysterie stellt sich nun dar als ein mehrdimensionales Gebilde von mindestens dreifacher Schichtung. Ich hoffe, ich werde diese bildliche Ausdrucksweise bald rechtfertigen können. Es ist zunächst ein Kern vorhanden von solchen Erinnerungen (an Erlebnisse oder Gedankengänge), in denen das traumatische Moment gegipfelt, oder die pathogene Idee ihre reinste Ausbildung gefunden hat. Um diesen Kern herum findet man eine oft unglaublich reichliche Menge von anderem Erinnerungsmaterial, die man bei der Analyse durcharbeiten muss in, wie erwähnt, dreifacher Anordnung. Erstens ist eine lineare chronologische Anordnung unverkennbar, die innerhalb jedes einzelnen Themas statthat. Als Beispiel für diese citire ich bloss die Anordnungen in Breuer’s Analyse der Anna O. Das Thema sei das des Taubwerdens, des Nichthörens (pag. 28); das differenzirte sich dann nach 7 Bedingungen, und unter jeder Ueberschrift waren 10 bis über 100 Einzelerinnerungen in chronologischer Reihenfolge gesammelt. Es war, als ob man ein, wohl in Ordnung gehaltenes, Archiv ausnehmen würde. In der Analyse meiner Patientin Emmy v. N … sind ähnliche, wenn auch nicht so vollzählig dargestellte Erinnerungsfascikel enthalten: sie bilden aber ein ganz allgemeines Vorkommniss in jeder Analyse, treten jedesmal in einer chronologischen Ordnung auf, die so unfehlbar verlässlich ist wie die Reihenfolge der Wochentage oder Monatenamen beim geistig normalen Menschen, und erschweren die Arbeit der Analyse durch die Eigenthümlichkeit, dass sie die Reihenfolge ihrer Entstehung bei der Reproduction umkehren; das frischeste, jüngste Erlebniss des Fascikels kommt als „Deckblatt“ zuerst, und den Schluss macht jener Eindruck, mit dem in Wirklichkeit die Reihe anfing.

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[253/0259] einziges hysterisches Symptom, sondern eine Anzahl von solchen, die theils unabhängig von einander, theils mit einander verknüpft sind. Man darf nicht eine einzige traumatische Erinnerung und als Kern derselben eine einzige pathogene Vorstellung erwarten, sondern muss auf Reihen von Partialtraumen und Verkettungen von pathogenen Gedankengängen gefasst sein. Die monosymptomatische traumatische Hysterie ist gleichsam ein Elementarorganismus, ein einzelliges Wesen im Vergleich zum complicirten Gefüge einer schwereren hysterischen Neurose, wie wir ihr gemeinhin begegnen. Das psychische Material einer solchen Hysterie stellt sich nun dar als ein mehrdimensionales Gebilde von mindestens dreifacher Schichtung. Ich hoffe, ich werde diese bildliche Ausdrucksweise bald rechtfertigen können. Es ist zunächst ein Kern vorhanden von solchen Erinnerungen (an Erlebnisse oder Gedankengänge), in denen das traumatische Moment gegipfelt, oder die pathogene Idee ihre reinste Ausbildung gefunden hat. Um diesen Kern herum findet man eine oft unglaublich reichliche Menge von anderem Erinnerungsmaterial, die man bei der Analyse durcharbeiten muss in, wie erwähnt, dreifacher Anordnung. Erstens ist eine lineare chronologische Anordnung unverkennbar, die innerhalb jedes einzelnen Themas statthat. Als Beispiel für diese citire ich bloss die Anordnungen in Breuer’s Analyse der Anna O. Das Thema sei das des Taubwerdens, des Nichthörens (pag. 28); das differenzirte sich dann nach 7 Bedingungen, und unter jeder Ueberschrift waren 10 bis über 100 Einzelerinnerungen in chronologischer Reihenfolge gesammelt. Es war, als ob man ein, wohl in Ordnung gehaltenes, Archiv ausnehmen würde. In der Analyse meiner Patientin Emmy v. N … sind ähnliche, wenn auch nicht so vollzählig dargestellte Erinnerungsfascikel enthalten: sie bilden aber ein ganz allgemeines Vorkommniss in jeder Analyse, treten jedesmal in einer chronologischen Ordnung auf, die so unfehlbar verlässlich ist wie die Reihenfolge der Wochentage oder Monatenamen beim geistig normalen Menschen, und erschweren die Arbeit der Analyse durch die Eigenthümlichkeit, dass sie die Reihenfolge ihrer Entstehung bei der Reproduction umkehren; das frischeste, jüngste Erlebniss des Fascikels kommt als „Deckblatt“ zuerst, und den Schluss macht jener Eindruck, mit dem in Wirklichkeit die Reihe anfing. Ich habe die Gruppirung gleichartiger Erinnerungen zu einer linear geschichteten Mehrheit, wie es ein Actenbündel, ein Paket udgl. darstellt, als Bildung eines Themas bezeichnet. Diese Themen nun

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/259>, abgerufen am 21.11.2024.