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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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zwang, davon zu reden, fiel die Hemmung weg, die vorher auch jede andere Aeusserung unmöglich gemacht hatte.

Dies fiel zeitlich zusammen mit der wiederkehrenden Beweglichkeit der linksseitigen Extremitäten, März 1881; die Paraphasie wich, aber sie sprach jetzt nur englisch, doch anscheinend, ohne es zu wissen; zankte mit der Wärterin, die sie natürlich nicht verstand; erst mehrere Monate später gelang mir, sie davon zu überzeugen, dass sie englisch rede. Doch verstand sie selbst noch ihre deutsch sprechende Umgebung. Nur in Momenten grosser Angst versagte die Sprache vollständig oder sie mischte die verschiedensten Idiome durcheinander. In den allerbesten, freiesten Stunden sprach sie französisch oder italienisch. Zwischen diesen Zeiten und denen, in welchen sie englisch sprach, bestand völlige Amnesie. Nun nahm auch der Strabismus ab und erschien schliesslich nur mehr bei heftiger Aufregung, der Kopf wurde wieder getragen. Am 1. April verliess sie zum erstenmale das Bett.

Da starb am 5. April der von ihr vergötterte Vater, den sie während ihrer Krankheit nur sehr selten für kurze Zeit gesehen hatte. Es war das schwerste psychische Trauma, das sie treffen konnte. Gewaltiger Aufregung folgte ein tiefer Stupor etwa zwei Tage lang, aus dem sie sich in sehr verändertem Zustande erhob. Zunächst war sie viel ruhiger und das Angstgefühl wesentlich vermindert. Die Contractur des rechten Armes und Beines dauerte fort, ebenso die, nicht tiefe, Anästhesie dieser Glieder. Es bestand hochgradige Gesichtsfeldeinengung. Von einem Blumenstrauss, der sie sehr erfreute, sah sie immer nur eine Blume zugleich. Sie klagte, dass sie die Menschen nicht erkenne. Sonst habe sie die Gesichter erkannt, ohne willkürlich dabei arbeiten zu müssen; jetzt müsse sie bei solchem, sehr mühsamem "recognising work" sich sagen, die Nase sei so, die Haare so, folglich werde das der und der sein. Alle Menschen wurden ihr wie Wachsfiguren, ohne Beziehung auf sie. Sehr peinlich war ihr die Gegenwart einiger nahen Verwandten, und dieser "negative Instinct" wuchs fortwährend. Trat jemand ins Zimmer, den sie sonst gern gesehen hatte, so erkannte sie ihn, war kurze Zeit präsent, dann versank sie wieder in ihr Brüten, und der Mensch war ihr entschwunden. Nur mich kannte sie immer, wenn ich eintrat, blieb auch immer präsent und munter, solange ich mit ihr sprach, bis auf die immer ganz plötzlich dazwischen fahrenden hallucinatorischen Absencen.

Sie sprach nun nur englisch und verstand nicht, was man ihr deutsch sagte. Ihre Umgebung musste englisch mit ihr sprechen; selbst

zwang, davon zu reden, fiel die Hemmung weg, die vorher auch jede andere Aeusserung unmöglich gemacht hatte.

Dies fiel zeitlich zusammen mit der wiederkehrenden Beweglichkeit der linksseitigen Extremitäten, März 1881; die Paraphasie wich, aber sie sprach jetzt nur englisch, doch anscheinend, ohne es zu wissen; zankte mit der Wärterin, die sie natürlich nicht verstand; erst mehrere Monate später gelang mir, sie davon zu überzeugen, dass sie englisch rede. Doch verstand sie selbst noch ihre deutsch sprechende Umgebung. Nur in Momenten grosser Angst versagte die Sprache vollständig oder sie mischte die verschiedensten Idiome durcheinander. In den allerbesten, freiesten Stunden sprach sie französisch oder italienisch. Zwischen diesen Zeiten und denen, in welchen sie englisch sprach, bestand völlige Amnesie. Nun nahm auch der Strabismus ab und erschien schliesslich nur mehr bei heftiger Aufregung, der Kopf wurde wieder getragen. Am 1. April verliess sie zum erstenmale das Bett.

Da starb am 5. April der von ihr vergötterte Vater, den sie während ihrer Krankheit nur sehr selten für kurze Zeit gesehen hatte. Es war das schwerste psychische Trauma, das sie treffen konnte. Gewaltiger Aufregung folgte ein tiefer Stupor etwa zwei Tage lang, aus dem sie sich in sehr verändertem Zustande erhob. Zunächst war sie viel ruhiger und das Angstgefühl wesentlich vermindert. Die Contractur des rechten Armes und Beines dauerte fort, ebenso die, nicht tiefe, Anästhesie dieser Glieder. Es bestand hochgradige Gesichtsfeldeinengung. Von einem Blumenstrauss, der sie sehr erfreute, sah sie immer nur eine Blume zugleich. Sie klagte, dass sie die Menschen nicht erkenne. Sonst habe sie die Gesichter erkannt, ohne willkürlich dabei arbeiten zu müssen; jetzt müsse sie bei solchem, sehr mühsamem „recognising work“ sich sagen, die Nase sei so, die Haare so, folglich werde das der und der sein. Alle Menschen wurden ihr wie Wachsfiguren, ohne Beziehung auf sie. Sehr peinlich war ihr die Gegenwart einiger nahen Verwandten, und dieser „negative Instinct“ wuchs fortwährend. Trat jemand ins Zimmer, den sie sonst gern gesehen hatte, so erkannte sie ihn, war kurze Zeit präsent, dann versank sie wieder in ihr Brüten, und der Mensch war ihr entschwunden. Nur mich kannte sie immer, wenn ich eintrat, blieb auch immer präsent und munter, solange ich mit ihr sprach, bis auf die immer ganz plötzlich dazwischen fahrenden hallucinatorischen Absencen.

Sie sprach nun nur englisch und verstand nicht, was man ihr deutsch sagte. Ihre Umgebung musste englisch mit ihr sprechen; selbst

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[19/0025] zwang, davon zu reden, fiel die Hemmung weg, die vorher auch jede andere Aeusserung unmöglich gemacht hatte. Dies fiel zeitlich zusammen mit der wiederkehrenden Beweglichkeit der linksseitigen Extremitäten, März 1881; die Paraphasie wich, aber sie sprach jetzt nur englisch, doch anscheinend, ohne es zu wissen; zankte mit der Wärterin, die sie natürlich nicht verstand; erst mehrere Monate später gelang mir, sie davon zu überzeugen, dass sie englisch rede. Doch verstand sie selbst noch ihre deutsch sprechende Umgebung. Nur in Momenten grosser Angst versagte die Sprache vollständig oder sie mischte die verschiedensten Idiome durcheinander. In den allerbesten, freiesten Stunden sprach sie französisch oder italienisch. Zwischen diesen Zeiten und denen, in welchen sie englisch sprach, bestand völlige Amnesie. Nun nahm auch der Strabismus ab und erschien schliesslich nur mehr bei heftiger Aufregung, der Kopf wurde wieder getragen. Am 1. April verliess sie zum erstenmale das Bett. Da starb am 5. April der von ihr vergötterte Vater, den sie während ihrer Krankheit nur sehr selten für kurze Zeit gesehen hatte. Es war das schwerste psychische Trauma, das sie treffen konnte. Gewaltiger Aufregung folgte ein tiefer Stupor etwa zwei Tage lang, aus dem sie sich in sehr verändertem Zustande erhob. Zunächst war sie viel ruhiger und das Angstgefühl wesentlich vermindert. Die Contractur des rechten Armes und Beines dauerte fort, ebenso die, nicht tiefe, Anästhesie dieser Glieder. Es bestand hochgradige Gesichtsfeldeinengung. Von einem Blumenstrauss, der sie sehr erfreute, sah sie immer nur eine Blume zugleich. Sie klagte, dass sie die Menschen nicht erkenne. Sonst habe sie die Gesichter erkannt, ohne willkürlich dabei arbeiten zu müssen; jetzt müsse sie bei solchem, sehr mühsamem „recognising work“ sich sagen, die Nase sei so, die Haare so, folglich werde das der und der sein. Alle Menschen wurden ihr wie Wachsfiguren, ohne Beziehung auf sie. Sehr peinlich war ihr die Gegenwart einiger nahen Verwandten, und dieser „negative Instinct“ wuchs fortwährend. Trat jemand ins Zimmer, den sie sonst gern gesehen hatte, so erkannte sie ihn, war kurze Zeit präsent, dann versank sie wieder in ihr Brüten, und der Mensch war ihr entschwunden. Nur mich kannte sie immer, wenn ich eintrat, blieb auch immer präsent und munter, solange ich mit ihr sprach, bis auf die immer ganz plötzlich dazwischen fahrenden hallucinatorischen Absencen. Sie sprach nun nur englisch und verstand nicht, was man ihr deutsch sagte. Ihre Umgebung musste englisch mit ihr sprechen; selbst

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/25>, abgerufen am 11.12.2024.