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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Der Onkel war angeblich der Einzige in der Familie gewesen, der ein Herz für sie gehabt, der sie geliebt hatte. Diess war nun die pathogene Vorstellung: Man liebe sie nicht, man ziehe ihr jeden anderen vor, sie verdiene es auch nicht, geliebt zu werden u. dgl. An der Vorstellung der "Liebe" aber haftete etwas, bei dessen Mittheilung sich ein arger Widerstand erhob. Die Analyse brach noch vor der Klärung ab.



Vor einiger Zeit sollte ich eine ältere Dame von ihren Angstanfällen befreien, die nach ihren Charaktereigenschaften kaum für derartige Beeinflussung geeignet war. Sie war seit der Menopause übermässig fromm geworden und empfing mich jedesmal wie den Gottseibeiuns, mit einem kleinen elfenbeinernen Crucifix bewaffnet, das sie in der Hand verbarg. Ihre Angstanfälle, die hysterischen Charakter trugen, reichten in frühe Mädchenjahre zurück und rührten angeblich von dem Gebrauche eines Jodpräparates her, mit welchem eine mässige Schwellung der Thyreoidea rückgängig gemacht werden sollte. Ich verwarf natürlich diese Herleitung und suchte sie durch eine andere zu ersetzen, die mit meinen Anschauungen über die Aetiologie neurotischer Symptome besser in Einklang stand. Auf die erste Frage nach einem Eindruck aus der Jugend, der mit den Angstanfällen in causalem Zusammenhang stünde, tauchte unter dem Drucke meiner Hand die Erinnerung an die Lecture eines sog. Erbauungsbuches auf, in dem eine, pietistisch genug, gehaltene Erwähnung der Sexualvorgänge zu finden war. Die betreffende Stelle machte auf das Mädchen einen der Intention des Autors entgegengesetzten Eindruck; sie brach in Thränen aus und schleuderte das Buch von sich. Diess war vor dem ersten Angstanfall. Ein zweiter Druck auf die Stirne der Kranken beschwor eine nächste Reminiscenz herauf, die Erinnerung an einen Erzieher der Brüder, der ihr grosse Ehrfurcht bezeugt und für den sie selbst eine wärmere Empfindung verspürt hatte. Diese Erinnerung gipfelte in der Reproduction eines Abends im elterlichen Hause, an dem sie alle mit dem jungen Manne um den Tisch herum sassen und sich im anregenden Gespräch so köstlich unterhielten. In der Nacht, die auf diesen Abend folgte, weckte sie der erste Angstanfall, der wohl mehr mit der Auflehnung gegen eine sinnliche Regung als mit dem etwa gleichzeitig gebrauchten Jod zu thun hatte. - Auf welche andere Weise hätte ich wohl Aussicht gehabt, bei dieser widerspenstigen, gegen mich und jede weltliche Therapie eingenommenen Patientin einen solchen Zusammenhang gegen ihre eigene Meinung und Behauptung aufzudecken?



Der Onkel war angeblich der Einzige in der Familie gewesen, der ein Herz für sie gehabt, der sie geliebt hatte. Diess war nun die pathogene Vorstellung: Man liebe sie nicht, man ziehe ihr jeden anderen vor, sie verdiene es auch nicht, geliebt zu werden u. dgl. An der Vorstellung der „Liebe“ aber haftete etwas, bei dessen Mittheilung sich ein arger Widerstand erhob. Die Analyse brach noch vor der Klärung ab.



Vor einiger Zeit sollte ich eine ältere Dame von ihren Angstanfällen befreien, die nach ihren Charaktereigenschaften kaum für derartige Beeinflussung geeignet war. Sie war seit der Menopause übermässig fromm geworden und empfing mich jedesmal wie den Gottseibeiuns, mit einem kleinen elfenbeinernen Crucifix bewaffnet, das sie in der Hand verbarg. Ihre Angstanfälle, die hysterischen Charakter trugen, reichten in frühe Mädchenjahre zurück und rührten angeblich von dem Gebrauche eines Jodpräparates her, mit welchem eine mässige Schwellung der Thyreoidea rückgängig gemacht werden sollte. Ich verwarf natürlich diese Herleitung und suchte sie durch eine andere zu ersetzen, die mit meinen Anschauungen über die Aetiologie neurotischer Symptome besser in Einklang stand. Auf die erste Frage nach einem Eindruck aus der Jugend, der mit den Angstanfällen in causalem Zusammenhang stünde, tauchte unter dem Drucke meiner Hand die Erinnerung an die Lecture eines sog. Erbauungsbuches auf, in dem eine, pietistisch genug, gehaltene Erwähnung der Sexualvorgänge zu finden war. Die betreffende Stelle machte auf das Mädchen einen der Intention des Autors entgegengesetzten Eindruck; sie brach in Thränen aus und schleuderte das Buch von sich. Diess war vor dem ersten Angstanfall. Ein zweiter Druck auf die Stirne der Kranken beschwor eine nächste Reminiscenz herauf, die Erinnerung an einen Erzieher der Brüder, der ihr grosse Ehrfurcht bezeugt und für den sie selbst eine wärmere Empfindung verspürt hatte. Diese Erinnerung gipfelte in der Reproduction eines Abends im elterlichen Hause, an dem sie alle mit dem jungen Manne um den Tisch herum sassen und sich im anregenden Gespräch so köstlich unterhielten. In der Nacht, die auf diesen Abend folgte, weckte sie der erste Angstanfall, der wohl mehr mit der Auflehnung gegen eine sinnliche Regung als mit dem etwa gleichzeitig gebrauchten Jod zu thun hatte. – Auf welche andere Weise hätte ich wohl Aussicht gehabt, bei dieser widerspenstigen, gegen mich und jede weltliche Therapie eingenommenen Patientin einen solchen Zusammenhang gegen ihre eigene Meinung und Behauptung aufzudecken?



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[239/0245] Der Onkel war angeblich der Einzige in der Familie gewesen, der ein Herz für sie gehabt, der sie geliebt hatte. Diess war nun die pathogene Vorstellung: Man liebe sie nicht, man ziehe ihr jeden anderen vor, sie verdiene es auch nicht, geliebt zu werden u. dgl. An der Vorstellung der „Liebe“ aber haftete etwas, bei dessen Mittheilung sich ein arger Widerstand erhob. Die Analyse brach noch vor der Klärung ab. Vor einiger Zeit sollte ich eine ältere Dame von ihren Angstanfällen befreien, die nach ihren Charaktereigenschaften kaum für derartige Beeinflussung geeignet war. Sie war seit der Menopause übermässig fromm geworden und empfing mich jedesmal wie den Gottseibeiuns, mit einem kleinen elfenbeinernen Crucifix bewaffnet, das sie in der Hand verbarg. Ihre Angstanfälle, die hysterischen Charakter trugen, reichten in frühe Mädchenjahre zurück und rührten angeblich von dem Gebrauche eines Jodpräparates her, mit welchem eine mässige Schwellung der Thyreoidea rückgängig gemacht werden sollte. Ich verwarf natürlich diese Herleitung und suchte sie durch eine andere zu ersetzen, die mit meinen Anschauungen über die Aetiologie neurotischer Symptome besser in Einklang stand. Auf die erste Frage nach einem Eindruck aus der Jugend, der mit den Angstanfällen in causalem Zusammenhang stünde, tauchte unter dem Drucke meiner Hand die Erinnerung an die Lecture eines sog. Erbauungsbuches auf, in dem eine, pietistisch genug, gehaltene Erwähnung der Sexualvorgänge zu finden war. Die betreffende Stelle machte auf das Mädchen einen der Intention des Autors entgegengesetzten Eindruck; sie brach in Thränen aus und schleuderte das Buch von sich. Diess war vor dem ersten Angstanfall. Ein zweiter Druck auf die Stirne der Kranken beschwor eine nächste Reminiscenz herauf, die Erinnerung an einen Erzieher der Brüder, der ihr grosse Ehrfurcht bezeugt und für den sie selbst eine wärmere Empfindung verspürt hatte. Diese Erinnerung gipfelte in der Reproduction eines Abends im elterlichen Hause, an dem sie alle mit dem jungen Manne um den Tisch herum sassen und sich im anregenden Gespräch so köstlich unterhielten. In der Nacht, die auf diesen Abend folgte, weckte sie der erste Angstanfall, der wohl mehr mit der Auflehnung gegen eine sinnliche Regung als mit dem etwa gleichzeitig gebrauchten Jod zu thun hatte. – Auf welche andere Weise hätte ich wohl Aussicht gehabt, bei dieser widerspenstigen, gegen mich und jede weltliche Therapie eingenommenen Patientin einen solchen Zusammenhang gegen ihre eigene Meinung und Behauptung aufzudecken?

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/245>, abgerufen am 23.11.2024.