Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

mit den bewusst ablaufenden Ideenreihen coexistiren, dass die Spaltung der Psyche (pag. 200) vollzogen ist. Es scheint sicher, dass diese auch ohne Hypnoid entstehen kann, aus der Fülle der abgewehrten, aus dem Bewusstsein verdrängten, aber nicht unterdrückten Vorstellungen. Auf die eine und die andere Weise entsteht ein bald ideenarmes, rudimentäres, bald dem wachen Denken mehr minder gleiches Gebiet psychischen Lebens, dessen Erkenntniss wir vor Allen Binet und Janet verdanken. Die Spaltung der Psyche ist die Vollendung der Hysterie; es wurde früher (Cap. V) dargelegt, wie sie die wesentlichen Charakterzüge der Krankheit erklärt. Dauernd, aber mit wechselnder Lebhaftigkeit seiner Vorstellungen, befindet sich ein Theil der Psyche des Kranken im Hypnoid, immer bereit, beim Nachlassen des wachen Denkens die Herrschaft über den ganzen Menschen zu gewinnen (Anfall, Delirium). Das geschieht, sobald ein starker Affect den normalen Vorstellungsablauf stört, in Dämmer- und in Erschöpfungszuständen. Aus diesem persistirenden Hypnoid herauf dringen unmotivirte, der normalen Association fremde Vorstellungen in's Bewusstsein, werden Hallucinationen in das Wahrnehmen geworfen, werden motorische Acte unabhängig vom bewussten Willen innervirt. Diese hypnoide Psyche ist im höchsten Grade befähigt zur Affectconversion und Suggestion, und so entstehen mit Leichtigkeit neue hysterische Phänomene, welche ohne die psychische Spaltung nur sehr schwer und unter dem Druck wiederholter Affecte zu Stande gekommen wären. Die abgespaltene Psyche ist jener Dämon, von dem die naive Beobachtung alter, abergläubischer Zeiten die Kranken besessen glaubte. Dass ein dem wachen Bewusstsein des Kranken fremder Geist in ihm walte, ist richtig; nur ist es kein wirklich fremder, sondern ein Theil seines eigenen.



Der hier gewagte Versuch, aus unseren heutigen Kenntnissen die Hysterie synthetisch zu construiren, steht dem Vorwurf des Eclecticismus offen, wenn dieser überhaupt berechtigt ist. So viele Formulirungen der Hysterie, von der alten "Reflextheorie" bis zur "Dissociation der Persönlichkeit" haben darin Platz finden müssen. Aber es kann kaum anders sein. So zahlreiche treffliche Beobachter und scharfsinnige Köpfe haben sich um die Hysterie bemüht. Es ist unwahrscheinlich, dass nicht jede ihrer Formulirungen einen Theil der Wahrheit enthalte. Die künftige Darstellung des wirklichen Sachverhaltes wird gewiss sie alle enthalten und nur all' die einseitigen

mit den bewusst ablaufenden Ideenreihen coexistiren, dass die Spaltung der Psyche (pag. 200) vollzogen ist. Es scheint sicher, dass diese auch ohne Hypnoid entstehen kann, aus der Fülle der abgewehrten, aus dem Bewusstsein verdrängten, aber nicht unterdrückten Vorstellungen. Auf die eine und die andere Weise entsteht ein bald ideenarmes, rudimentäres, bald dem wachen Denken mehr minder gleiches Gebiet psychischen Lebens, dessen Erkenntniss wir vor Allen Binet und Janet verdanken. Die Spaltung der Psyche ist die Vollendung der Hysterie; es wurde früher (Cap. V) dargelegt, wie sie die wesentlichen Charakterzüge der Krankheit erklärt. Dauernd, aber mit wechselnder Lebhaftigkeit seiner Vorstellungen, befindet sich ein Theil der Psyche des Kranken im Hypnoid, immer bereit, beim Nachlassen des wachen Denkens die Herrschaft über den ganzen Menschen zu gewinnen (Anfall, Delirium). Das geschieht, sobald ein starker Affect den normalen Vorstellungsablauf stört, in Dämmer- und in Erschöpfungszuständen. Aus diesem persistirenden Hypnoid herauf dringen unmotivirte, der normalen Association fremde Vorstellungen in's Bewusstsein, werden Hallucinationen in das Wahrnehmen geworfen, werden motorische Acte unabhängig vom bewussten Willen innervirt. Diese hypnoide Psyche ist im höchsten Grade befähigt zur Affectconversion und Suggestion, und so entstehen mit Leichtigkeit neue hysterische Phänomene, welche ohne die psychische Spaltung nur sehr schwer und unter dem Druck wiederholter Affecte zu Stande gekommen wären. Die abgespaltene Psyche ist jener Dämon, von dem die naive Beobachtung alter, abergläubischer Zeiten die Kranken besessen glaubte. Dass ein dem wachen Bewusstsein des Kranken fremder Geist in ihm walte, ist richtig; nur ist es kein wirklich fremder, sondern ein Theil seines eigenen.



Der hier gewagte Versuch, aus unseren heutigen Kenntnissen die Hysterie synthetisch zu construiren, steht dem Vorwurf des Eclecticismus offen, wenn dieser überhaupt berechtigt ist. So viele Formulirungen der Hysterie, von der alten „Reflextheorie“ bis zur „Dissociation der Persönlichkeit“ haben darin Platz finden müssen. Aber es kann kaum anders sein. So zahlreiche treffliche Beobachter und scharfsinnige Köpfe haben sich um die Hysterie bemüht. Es ist unwahrscheinlich, dass nicht jede ihrer Formulirungen einen Theil der Wahrheit enthalte. Die künftige Darstellung des wirklichen Sachverhaltes wird gewiss sie alle enthalten und nur all’ die einseitigen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div>
          <p><pb facs="#f0226" n="220"/>
mit den bewusst ablaufenden Ideenreihen coexistiren, dass die <hi rendition="#g">Spaltung der Psyche</hi> (pag. 200) vollzogen ist. Es scheint sicher, dass diese auch ohne Hypnoid entstehen kann, aus der Fülle der abgewehrten, aus dem Bewusstsein verdrängten, aber nicht unterdrückten Vorstellungen. Auf die eine und die andere Weise entsteht ein bald ideenarmes, rudimentäres, bald dem wachen Denken mehr minder gleiches Gebiet psychischen Lebens, dessen Erkenntniss wir vor Allen <hi rendition="#g">Binet</hi> und <hi rendition="#g">Janet</hi> verdanken. Die Spaltung der Psyche ist die Vollendung der Hysterie; es wurde früher (Cap. V) dargelegt, wie sie die wesentlichen Charakterzüge der Krankheit erklärt. Dauernd, aber mit wechselnder Lebhaftigkeit seiner Vorstellungen, befindet sich ein Theil der Psyche des Kranken im Hypnoid, immer bereit, beim Nachlassen des wachen Denkens die Herrschaft über den ganzen Menschen zu gewinnen (Anfall, Delirium). Das geschieht, sobald ein starker Affect den normalen Vorstellungsablauf stört, in Dämmer- und in Erschöpfungszuständen. Aus diesem persistirenden Hypnoid herauf dringen unmotivirte, der normalen Association fremde Vorstellungen in's Bewusstsein, werden Hallucinationen in das Wahrnehmen geworfen, werden motorische Acte unabhängig vom bewussten Willen innervirt. Diese hypnoide Psyche ist im höchsten Grade befähigt zur Affectconversion und Suggestion, und so entstehen mit Leichtigkeit neue hysterische Phänomene, welche ohne die psychische Spaltung nur sehr schwer und unter dem Druck wiederholter Affecte zu Stande gekommen wären. Die abgespaltene Psyche ist jener <hi rendition="#g">Dämon</hi>, von dem die naive Beobachtung alter, abergläubischer Zeiten die Kranken besessen glaubte. Dass ein dem wachen Bewusstsein des Kranken fremder Geist in ihm walte, ist richtig; nur ist es kein wirklich fremder, sondern ein Theil seines eigenen.</p>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Der hier gewagte Versuch, aus unseren heutigen Kenntnissen die Hysterie synthetisch zu construiren, steht dem Vorwurf des Eclecticismus offen, wenn dieser überhaupt berechtigt ist. So viele Formulirungen der Hysterie, von der alten &#x201E;Reflextheorie&#x201C; bis zur &#x201E;Dissociation der Persönlichkeit&#x201C; haben darin Platz finden müssen. Aber es kann kaum anders sein. So zahlreiche treffliche Beobachter und scharfsinnige Köpfe haben sich um die Hysterie bemüht. Es ist unwahrscheinlich, dass nicht jede ihrer Formulirungen einen Theil der Wahrheit enthalte. Die künftige Darstellung des wirklichen Sachverhaltes wird gewiss sie alle enthalten und nur all&#x2019; die einseitigen
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[220/0226] mit den bewusst ablaufenden Ideenreihen coexistiren, dass die Spaltung der Psyche (pag. 200) vollzogen ist. Es scheint sicher, dass diese auch ohne Hypnoid entstehen kann, aus der Fülle der abgewehrten, aus dem Bewusstsein verdrängten, aber nicht unterdrückten Vorstellungen. Auf die eine und die andere Weise entsteht ein bald ideenarmes, rudimentäres, bald dem wachen Denken mehr minder gleiches Gebiet psychischen Lebens, dessen Erkenntniss wir vor Allen Binet und Janet verdanken. Die Spaltung der Psyche ist die Vollendung der Hysterie; es wurde früher (Cap. V) dargelegt, wie sie die wesentlichen Charakterzüge der Krankheit erklärt. Dauernd, aber mit wechselnder Lebhaftigkeit seiner Vorstellungen, befindet sich ein Theil der Psyche des Kranken im Hypnoid, immer bereit, beim Nachlassen des wachen Denkens die Herrschaft über den ganzen Menschen zu gewinnen (Anfall, Delirium). Das geschieht, sobald ein starker Affect den normalen Vorstellungsablauf stört, in Dämmer- und in Erschöpfungszuständen. Aus diesem persistirenden Hypnoid herauf dringen unmotivirte, der normalen Association fremde Vorstellungen in's Bewusstsein, werden Hallucinationen in das Wahrnehmen geworfen, werden motorische Acte unabhängig vom bewussten Willen innervirt. Diese hypnoide Psyche ist im höchsten Grade befähigt zur Affectconversion und Suggestion, und so entstehen mit Leichtigkeit neue hysterische Phänomene, welche ohne die psychische Spaltung nur sehr schwer und unter dem Druck wiederholter Affecte zu Stande gekommen wären. Die abgespaltene Psyche ist jener Dämon, von dem die naive Beobachtung alter, abergläubischer Zeiten die Kranken besessen glaubte. Dass ein dem wachen Bewusstsein des Kranken fremder Geist in ihm walte, ist richtig; nur ist es kein wirklich fremder, sondern ein Theil seines eigenen. Der hier gewagte Versuch, aus unseren heutigen Kenntnissen die Hysterie synthetisch zu construiren, steht dem Vorwurf des Eclecticismus offen, wenn dieser überhaupt berechtigt ist. So viele Formulirungen der Hysterie, von der alten „Reflextheorie“ bis zur „Dissociation der Persönlichkeit“ haben darin Platz finden müssen. Aber es kann kaum anders sein. So zahlreiche treffliche Beobachter und scharfsinnige Köpfe haben sich um die Hysterie bemüht. Es ist unwahrscheinlich, dass nicht jede ihrer Formulirungen einen Theil der Wahrheit enthalte. Die künftige Darstellung des wirklichen Sachverhaltes wird gewiss sie alle enthalten und nur all’ die einseitigen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/226
Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/226>, abgerufen am 22.11.2024.