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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Für die Existenz actueller, aber unbewusster oder unterbewusster Vorstellungen zu sprechen, scheint kaum mehr nöthig. Es sind Thatsachen des alltäglichsten Lebens. Wenn ich einen ärztlichen Besuch zu machen vergessen habe, fühle ich lebhafte Unruhe. Ich weiss aus Erfahrung, was diese Empfindung bedeutet: ein Vergessen. Vergebens prüfe ich meine Erinnerungen, ich finde die Ursache nicht, bis sie mir oft nach Stunden plötzlich in's Bewusstsein tritt. Aber die ganze Zeit über bin ich unruhig. Also ist die Vorstellung dieses Besuches immer wirksam, also auch immer vorhanden, aber nicht im Bewusstsein. - Ein beschäftigter Mann hat Morgens einen Verdruss gehabt. Sein Amt nimmt ihn ganz in Anspruch; während der Thätigkeit ist sein bewusstes Denken völlig beschäftigt, und er denkt nicht an seinen Aerger. Aber seine Entscheidungen werden davon beeinflusst, und er sagt wohl Nein, wo er sonst Ja sagen würde. Also ist die Erinnerung trotzdem wirksam, also vorhanden. Ein grosser Theil dessen, was wir Stimmung nennen, stammt aus solcher Quelle, aus Vorstellungen, die unter der Schwelle des Bewusstseins existiren und wirken. - Ja unsere ganze Lebensführung wird fortwährend von unterbewussten Vorstellungen beeinflusst. Wir sehen täglich, wie bei geistigem Verfall, z. B. im Beginn einer Paralyse die Hemmungen schwächer werden und schwinden, die sonst manche Handlungen verhindern. Aber der Paralytiker, der jetzt vor Frauen Zoten spricht, ist in gesunden Tagen davon nicht durch bewusste Erinnerung und Ueberlegung abgehalten worden. Er mied es "instinctiv" und "automatisch", d. h. er wurde durch Vorstellungen davon abgehalten, welche der Impuls zu solcher Handlung wachrief, die aber unter der Bewusstseinschwelle blieben und doch den Impuls hemmten. - Alle intuitive Thätigkeit ist geleitet durch Vorstellungen, die grossentheils unterbewusst sind. Es werden eben nur die hellsten, intensivsten Vorstellungen vom Selbstbewusstsein wahrgenommen, während die grosse Masse actueller aber schwächerer Vorstellungen unbewusst bleibt.

Was gegen die Existenz und Wirksamkeit "unbewusster Vorstellungen" eingewendet wird, erscheint grossentheils als Wortchicane. Gewiss ist "Vorstellung" ein Wort aus der Terminologie des bewussten Denkens und darum "unbewusste Vorstellung" ein widerspruchsvoller Ausdruck. Aber der physische Process, welcher der Vorstellung zu Grunde liegt, ist inhaltlich und formal (wenn auch nicht quantitativ) derselbe, ob die Vorstellung über die Schwelle des Bewusstseins tritt oder darunter bleibt. Es genügte, einen Terminus

Für die Existenz actueller, aber unbewusster oder unterbewusster Vorstellungen zu sprechen, scheint kaum mehr nöthig. Es sind Thatsachen des alltäglichsten Lebens. Wenn ich einen ärztlichen Besuch zu machen vergessen habe, fühle ich lebhafte Unruhe. Ich weiss aus Erfahrung, was diese Empfindung bedeutet: ein Vergessen. Vergebens prüfe ich meine Erinnerungen, ich finde die Ursache nicht, bis sie mir oft nach Stunden plötzlich in's Bewusstsein tritt. Aber die ganze Zeit über bin ich unruhig. Also ist die Vorstellung dieses Besuches immer wirksam, also auch immer vorhanden, aber nicht im Bewusstsein. – Ein beschäftigter Mann hat Morgens einen Verdruss gehabt. Sein Amt nimmt ihn ganz in Anspruch; während der Thätigkeit ist sein bewusstes Denken völlig beschäftigt, und er denkt nicht an seinen Aerger. Aber seine Entscheidungen werden davon beeinflusst, und er sagt wohl Nein, wo er sonst Ja sagen würde. Also ist die Erinnerung trotzdem wirksam, also vorhanden. Ein grosser Theil dessen, was wir Stimmung nennen, stammt aus solcher Quelle, aus Vorstellungen, die unter der Schwelle des Bewusstseins existiren und wirken. – Ja unsere ganze Lebensführung wird fortwährend von unterbewussten Vorstellungen beeinflusst. Wir sehen täglich, wie bei geistigem Verfall, z. B. im Beginn einer Paralyse die Hemmungen schwächer werden und schwinden, die sonst manche Handlungen verhindern. Aber der Paralytiker, der jetzt vor Frauen Zoten spricht, ist in gesunden Tagen davon nicht durch bewusste Erinnerung und Ueberlegung abgehalten worden. Er mied es „instinctiv“ und „automatisch“, d. h. er wurde durch Vorstellungen davon abgehalten, welche der Impuls zu solcher Handlung wachrief, die aber unter der Bewusstseinschwelle blieben und doch den Impuls hemmten. – Alle intuitive Thätigkeit ist geleitet durch Vorstellungen, die grossentheils unterbewusst sind. Es werden eben nur die hellsten, intensivsten Vorstellungen vom Selbstbewusstsein wahrgenommen, während die grosse Masse actueller aber schwächerer Vorstellungen unbewusst bleibt.

Was gegen die Existenz und Wirksamkeit „unbewusster Vorstellungen“ eingewendet wird, erscheint grossentheils als Wortchicane. Gewiss ist „Vorstellung“ ein Wort aus der Terminologie des bewussten Denkens und darum „unbewusste Vorstellung“ ein widerspruchsvoller Ausdruck. Aber der physische Process, welcher der Vorstellung zu Grunde liegt, ist inhaltlich und formal (wenn auch nicht quantitativ) derselbe, ob die Vorstellung über die Schwelle des Bewusstseins tritt oder darunter bleibt. Es genügte, einen Terminus

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[195/0201] Für die Existenz actueller, aber unbewusster oder unterbewusster Vorstellungen zu sprechen, scheint kaum mehr nöthig. Es sind Thatsachen des alltäglichsten Lebens. Wenn ich einen ärztlichen Besuch zu machen vergessen habe, fühle ich lebhafte Unruhe. Ich weiss aus Erfahrung, was diese Empfindung bedeutet: ein Vergessen. Vergebens prüfe ich meine Erinnerungen, ich finde die Ursache nicht, bis sie mir oft nach Stunden plötzlich in's Bewusstsein tritt. Aber die ganze Zeit über bin ich unruhig. Also ist die Vorstellung dieses Besuches immer wirksam, also auch immer vorhanden, aber nicht im Bewusstsein. – Ein beschäftigter Mann hat Morgens einen Verdruss gehabt. Sein Amt nimmt ihn ganz in Anspruch; während der Thätigkeit ist sein bewusstes Denken völlig beschäftigt, und er denkt nicht an seinen Aerger. Aber seine Entscheidungen werden davon beeinflusst, und er sagt wohl Nein, wo er sonst Ja sagen würde. Also ist die Erinnerung trotzdem wirksam, also vorhanden. Ein grosser Theil dessen, was wir Stimmung nennen, stammt aus solcher Quelle, aus Vorstellungen, die unter der Schwelle des Bewusstseins existiren und wirken. – Ja unsere ganze Lebensführung wird fortwährend von unterbewussten Vorstellungen beeinflusst. Wir sehen täglich, wie bei geistigem Verfall, z. B. im Beginn einer Paralyse die Hemmungen schwächer werden und schwinden, die sonst manche Handlungen verhindern. Aber der Paralytiker, der jetzt vor Frauen Zoten spricht, ist in gesunden Tagen davon nicht durch bewusste Erinnerung und Ueberlegung abgehalten worden. Er mied es „instinctiv“ und „automatisch“, d. h. er wurde durch Vorstellungen davon abgehalten, welche der Impuls zu solcher Handlung wachrief, die aber unter der Bewusstseinschwelle blieben und doch den Impuls hemmten. – Alle intuitive Thätigkeit ist geleitet durch Vorstellungen, die grossentheils unterbewusst sind. Es werden eben nur die hellsten, intensivsten Vorstellungen vom Selbstbewusstsein wahrgenommen, während die grosse Masse actueller aber schwächerer Vorstellungen unbewusst bleibt. Was gegen die Existenz und Wirksamkeit „unbewusster Vorstellungen“ eingewendet wird, erscheint grossentheils als Wortchicane. Gewiss ist „Vorstellung“ ein Wort aus der Terminologie des bewussten Denkens und darum „unbewusste Vorstellung“ ein widerspruchsvoller Ausdruck. Aber der physische Process, welcher der Vorstellung zu Grunde liegt, ist inhaltlich und formal (wenn auch nicht quantitativ) derselbe, ob die Vorstellung über die Schwelle des Bewusstseins tritt oder darunter bleibt. Es genügte, einen Terminus

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/201>, abgerufen am 24.11.2024.