Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.und sie nöthige, ganz besondere, schnellende Bewegungen mit den Fingern zu machen. Ich konnte den Anfall nicht sehen, sonst hätte ich wohl aus dem Anblick der Fingerbewegungen den Anlass errathen; ich versuchte aber sofort der Begründung des Symptomes (eigentlich des kleinen hysterischen Anfalls) durch hypnotische Analyse auf die Spur zu kommen. Da das Ganze erst seit so kurzer Zeit bestand, hoffte ich Aufklärung und Erledigung rasch herbeiführen zu können. Zu meinem Erstaunen brachte mir die Kranke - ohne Zaudern und in chronologischer Ordnung - eine ganze Reihe von Scenen, in früher Kindheit beginnend, denen etwa gemeinsam war, dass sie ein Unrecht ohne Abwehr geduldet hatte, so dass es ihr dabei in den Fingern zucken konnte, z. B. Scenen wie, dass sie in der Schule die Hand hinhalten musste, auf die ihr der Lehrer mit dem Lineal einen Schlag versetzte. Es waren aber banale Anlässe, denen ich die Berechtigung, in die Aetiologie eines hysterischen Symptoms einzugehen, gerne bestritten hätte. Anders stand es mit einer Scene aus ihren ersten Mädchenjahren, die sich daran schloss. Der böse Onkel, der an Rheumatismus litt, hatte von ihr verlangt, dass sie ihn am Rücken massire. Sie getraute sich nicht, es zu verweigern. Er lag dabei zu Bett, plötzlich warf er die Decke ab, erhob sich, wollte sie packen und hinwerfen. Sie unterbrach natürlich die Massage und hatte sich im nächsten Moment geflüchtet und in ihrem Zimmer versperrt. Sie erinnerte sich offenbar nicht gerne an dieses Erlebniss, wollte sich auch nicht äussern, ob sie bei der plötzlichen Entblössung des Mannes etwas gesehen habe. Die Empfindung in den Fingern mochte dabei durch den unterdrückten Impuls zu erklären sein, ihn zu züchtigen, oder einfach daher rühren, dass sie eben mit der Massage beschäftigt war. Erst nach dieser Scene kam sie auf die gestern erlebte zu sprechen, nach welcher sich Empfindung und Zucken in den Fingern als wiederkehrendes Erinnerungssymbol eingestellt hatten. Der Onkel, bei dem sie jetzt wohnte, hatte sie gebeten, ihm etwas vorzuspielen; sie setzte sich an's Clavier und begleitete sich dabei mit Gesang in der Meinung, die Tante sei ausgegangen. Plötzlich kam die Tante in die Thüre; Rosalie sprang auf, warf den Deckel des Claviers zu und schleuderte das Notenblatt weg; es ist auch zu errathen, welche Erinnerung in ihr auftauchte und welchen Gedankengang sie in diesem Momente abwehrte, den der Erbitterung über den ungerechten Verdacht, der sie eigentlich bewegen sollte, das Haus zu verlassen, während sie doch der Cur wegen genöthigt war, in Wien zu bleiben, und eine andere Unterkunft nicht hatte. Die Bewegung der und sie nöthige, ganz besondere, schnellende Bewegungen mit den Fingern zu machen. Ich konnte den Anfall nicht sehen, sonst hätte ich wohl aus dem Anblick der Fingerbewegungen den Anlass errathen; ich versuchte aber sofort der Begründung des Symptomes (eigentlich des kleinen hysterischen Anfalls) durch hypnotische Analyse auf die Spur zu kommen. Da das Ganze erst seit so kurzer Zeit bestand, hoffte ich Aufklärung und Erledigung rasch herbeiführen zu können. Zu meinem Erstaunen brachte mir die Kranke – ohne Zaudern und in chronologischer Ordnung – eine ganze Reihe von Scenen, in früher Kindheit beginnend, denen etwa gemeinsam war, dass sie ein Unrecht ohne Abwehr geduldet hatte, so dass es ihr dabei in den Fingern zucken konnte, z. B. Scenen wie, dass sie in der Schule die Hand hinhalten musste, auf die ihr der Lehrer mit dem Lineal einen Schlag versetzte. Es waren aber banale Anlässe, denen ich die Berechtigung, in die Aetiologie eines hysterischen Symptoms einzugehen, gerne bestritten hätte. Anders stand es mit einer Scene aus ihren ersten Mädchenjahren, die sich daran schloss. Der böse Onkel, der an Rheumatismus litt, hatte von ihr verlangt, dass sie ihn am Rücken massire. Sie getraute sich nicht, es zu verweigern. Er lag dabei zu Bett, plötzlich warf er die Decke ab, erhob sich, wollte sie packen und hinwerfen. Sie unterbrach natürlich die Massage und hatte sich im nächsten Moment geflüchtet und in ihrem Zimmer versperrt. Sie erinnerte sich offenbar nicht gerne an dieses Erlebniss, wollte sich auch nicht äussern, ob sie bei der plötzlichen Entblössung des Mannes etwas gesehen habe. Die Empfindung in den Fingern mochte dabei durch den unterdrückten Impuls zu erklären sein, ihn zu züchtigen, oder einfach daher rühren, dass sie eben mit der Massage beschäftigt war. Erst nach dieser Scene kam sie auf die gestern erlebte zu sprechen, nach welcher sich Empfindung und Zucken in den Fingern als wiederkehrendes Erinnerungssymbol eingestellt hatten. Der Onkel, bei dem sie jetzt wohnte, hatte sie gebeten, ihm etwas vorzuspielen; sie setzte sich an's Clavier und begleitete sich dabei mit Gesang in der Meinung, die Tante sei ausgegangen. Plötzlich kam die Tante in die Thüre; Rosalie sprang auf, warf den Deckel des Claviers zu und schleuderte das Notenblatt weg; es ist auch zu errathen, welche Erinnerung in ihr auftauchte und welchen Gedankengang sie in diesem Momente abwehrte, den der Erbitterung über den ungerechten Verdacht, der sie eigentlich bewegen sollte, das Haus zu verlassen, während sie doch der Cur wegen genöthigt war, in Wien zu bleiben, und eine andere Unterkunft nicht hatte. Die Bewegung der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div> <p><pb facs="#f0157" n="151"/> und sie nöthige, ganz besondere, schnellende Bewegungen mit den Fingern zu machen. Ich konnte den Anfall nicht sehen, sonst hätte ich wohl aus dem Anblick der Fingerbewegungen den Anlass errathen; ich versuchte aber sofort der Begründung des Symptomes (eigentlich des kleinen hysterischen Anfalls) durch hypnotische Analyse auf die Spur zu kommen. Da das Ganze erst seit so kurzer Zeit bestand, hoffte ich Aufklärung und Erledigung rasch herbeiführen zu können. Zu meinem Erstaunen brachte mir die Kranke – ohne Zaudern und in chronologischer Ordnung – eine ganze Reihe von Scenen, in früher Kindheit beginnend, denen etwa gemeinsam war, dass sie ein Unrecht ohne Abwehr geduldet hatte, so dass es ihr dabei in den Fingern zucken konnte, z. B. Scenen wie, dass sie in der Schule die Hand hinhalten musste, auf die ihr der Lehrer mit dem Lineal einen Schlag versetzte. Es waren aber banale Anlässe, denen ich die Berechtigung, in die Aetiologie eines hysterischen Symptoms einzugehen, gerne bestritten hätte. Anders stand es mit einer Scene aus ihren ersten Mädchenjahren, die sich daran schloss. Der böse Onkel, der an Rheumatismus litt, hatte von ihr verlangt, dass sie ihn am Rücken massire. Sie getraute sich nicht, es zu verweigern. Er lag dabei zu Bett, plötzlich warf er die Decke ab, erhob sich, wollte sie packen und hinwerfen. Sie unterbrach natürlich die Massage und hatte sich im nächsten Moment geflüchtet und in ihrem Zimmer versperrt. Sie erinnerte sich offenbar nicht gerne an dieses Erlebniss, wollte sich auch nicht äussern, ob sie bei der plötzlichen Entblössung des Mannes etwas gesehen habe. Die Empfindung in den Fingern mochte dabei durch den unterdrückten Impuls zu erklären sein, ihn zu züchtigen, oder einfach daher rühren, dass sie eben mit der Massage beschäftigt war. Erst nach dieser Scene kam sie auf die gestern erlebte zu sprechen, nach welcher sich Empfindung und Zucken in den Fingern als wiederkehrendes Erinnerungssymbol eingestellt hatten. Der Onkel, bei dem sie jetzt wohnte, hatte sie gebeten, ihm etwas vorzuspielen; sie setzte sich an's Clavier und begleitete sich dabei mit Gesang in der Meinung, die Tante sei ausgegangen. Plötzlich kam die Tante in die Thüre; Rosalie sprang auf, warf den Deckel des Claviers zu und schleuderte das Notenblatt weg; es ist auch zu errathen, welche Erinnerung in ihr auftauchte und welchen Gedankengang sie in diesem Momente abwehrte, den der Erbitterung über den ungerechten Verdacht, der sie eigentlich bewegen sollte, das Haus zu verlassen, während sie doch der Cur wegen genöthigt war, in Wien zu bleiben, und eine andere Unterkunft nicht hatte. Die Bewegung der </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [151/0157]
und sie nöthige, ganz besondere, schnellende Bewegungen mit den Fingern zu machen. Ich konnte den Anfall nicht sehen, sonst hätte ich wohl aus dem Anblick der Fingerbewegungen den Anlass errathen; ich versuchte aber sofort der Begründung des Symptomes (eigentlich des kleinen hysterischen Anfalls) durch hypnotische Analyse auf die Spur zu kommen. Da das Ganze erst seit so kurzer Zeit bestand, hoffte ich Aufklärung und Erledigung rasch herbeiführen zu können. Zu meinem Erstaunen brachte mir die Kranke – ohne Zaudern und in chronologischer Ordnung – eine ganze Reihe von Scenen, in früher Kindheit beginnend, denen etwa gemeinsam war, dass sie ein Unrecht ohne Abwehr geduldet hatte, so dass es ihr dabei in den Fingern zucken konnte, z. B. Scenen wie, dass sie in der Schule die Hand hinhalten musste, auf die ihr der Lehrer mit dem Lineal einen Schlag versetzte. Es waren aber banale Anlässe, denen ich die Berechtigung, in die Aetiologie eines hysterischen Symptoms einzugehen, gerne bestritten hätte. Anders stand es mit einer Scene aus ihren ersten Mädchenjahren, die sich daran schloss. Der böse Onkel, der an Rheumatismus litt, hatte von ihr verlangt, dass sie ihn am Rücken massire. Sie getraute sich nicht, es zu verweigern. Er lag dabei zu Bett, plötzlich warf er die Decke ab, erhob sich, wollte sie packen und hinwerfen. Sie unterbrach natürlich die Massage und hatte sich im nächsten Moment geflüchtet und in ihrem Zimmer versperrt. Sie erinnerte sich offenbar nicht gerne an dieses Erlebniss, wollte sich auch nicht äussern, ob sie bei der plötzlichen Entblössung des Mannes etwas gesehen habe. Die Empfindung in den Fingern mochte dabei durch den unterdrückten Impuls zu erklären sein, ihn zu züchtigen, oder einfach daher rühren, dass sie eben mit der Massage beschäftigt war. Erst nach dieser Scene kam sie auf die gestern erlebte zu sprechen, nach welcher sich Empfindung und Zucken in den Fingern als wiederkehrendes Erinnerungssymbol eingestellt hatten. Der Onkel, bei dem sie jetzt wohnte, hatte sie gebeten, ihm etwas vorzuspielen; sie setzte sich an's Clavier und begleitete sich dabei mit Gesang in der Meinung, die Tante sei ausgegangen. Plötzlich kam die Tante in die Thüre; Rosalie sprang auf, warf den Deckel des Claviers zu und schleuderte das Notenblatt weg; es ist auch zu errathen, welche Erinnerung in ihr auftauchte und welchen Gedankengang sie in diesem Momente abwehrte, den der Erbitterung über den ungerechten Verdacht, der sie eigentlich bewegen sollte, das Haus zu verlassen, während sie doch der Cur wegen genöthigt war, in Wien zu bleiben, und eine andere Unterkunft nicht hatte. Die Bewegung der
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