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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Ich hebe nochmals hervor: Diese Frau ist nicht krank, das nachholende Abreagiren ist bei aller Aehnlichkeit doch kein hysterischer Vorgang; man darf sich die Frage stellen, woran es liegen mag, dass nach der einen Krankenpflege sich eine Hysterie ergiebt, nach der anderen nicht. An der persönlichen Disposition kann es nicht liegen, eine solche war bei der Dame, die ich hier im Sinne habe, im reichsten Ausmaass vorhanden.

Ich kehre zu Fräulein Elisabeth v. R. zurück. Während der Pflege ihres Vaters also entstand bei ihr das erste Mal ein hysterisches Symptom und zwar ein Schmerz an einer bestimmten Stelle des rechten Oberschenkels. Der Mechanismus dieses Symptoms lässt sich auf Grund der Analyse hinreichend durchleuchten. Es war ein Moment,

einer sonst räthselhaften Neurose bilden kann. Es war diess bei einem schönen 19jährigen Mädchen, Frl. Mathilde H. . . ., welches ich zuerst mit einer unvollständigen Lähmung der Beine sah, dann aber Monate später zur Behandlung bekam, weil sie ihren Charakter verändert hatte, bis zur Lebensunlust verstimmt, rücksichtslos gegen ihre Mutter, reizbar und unzugänglich geworden war. Das ganze Bild der Patientin gestattete mir nicht die Annahme einer gewöhnlichen Melancholie. Sie war sehr leicht in tiefen Somnambulismus zu versetzen, und ich bediente mich dieser ihrer Eigenthümlichkeit, um ihr jedesmal Gebote und Suggestionen zu ertheilen, die sie im tiefen Schlaf anhörte, mit reichlichen Thränen begleitete, die aber sonst an ihrem Befinden wenig änderten. Eines Tages wurde sie in der Hypnose gesprächig und theilte mir mit, dass die Ursache ihrer Verstimmung die vor mehreren Monaten erfolgte Auflösung ihrer Verlobung sei. Es hätte sich bei näherer Bekanntschaft mit dem Verlobten immer mehr herausgestellt, was der Mutter und ihr unerwünscht gewesen wäre, andererseits seien die materiellen Vortheile der Verbindung zu greifbar gewesen, um den Entschluss des Abbrechens leicht zu machen: so hätten sie Beide eine lange Zeit geschwankt, sie selbst sei in einen Zustand von Unentschlossenheit gerathen, in dem sie apathisch alles über sich ergehen liess, und endlich habe die Mutter für sie das entscheidende Nein gesprochen. Eine Weile später sei sie wie aus einem Traum erwacht, habe begonnen, sich eifrig in Gedanken mit der bereits gefällten Entscheidung zu befassen, das Für und das Wider bei sich abzuwägen, und dieser Vorgang setze sich bei ihr immer noch fort. Sie lebe in jener Zeit der Zweifel, habe an jedem Tag die Stimmung und die Gedanken, die sich für den damaligen Tag geschickt hätten, ihre Reizbarkeit gegen die Mutter sei auch nur in damals geltenden Verhältnissen begründet, und neben dieser Gedankenthätigkeit komme ihr das gegenwärtige Leben wie eine Scheinexistenz, wie etwas Geträumtes vor. - Es gelang mir nicht wieder, das Mädchen zum Reden zu bringen, ich setzte meinen Zuspruch in tiefem Somnambulismus fort, sah sie jedesmal in Thränen ausbrechen, ohne dass sie mir je Antwort gab, und eines Tages, ungefähr um den Jahrestag der Verlobung, war der ganze Zustand von Verstimmung vorüber, was mir als grosser hypnotischer Heilerfolg angerechnet wurde.

Ich hebe nochmals hervor: Diese Frau ist nicht krank, das nachholende Abreagiren ist bei aller Aehnlichkeit doch kein hysterischer Vorgang; man darf sich die Frage stellen, woran es liegen mag, dass nach der einen Krankenpflege sich eine Hysterie ergiebt, nach der anderen nicht. An der persönlichen Disposition kann es nicht liegen, eine solche war bei der Dame, die ich hier im Sinne habe, im reichsten Ausmaass vorhanden.

Ich kehre zu Fräulein Elisabeth v. R. zurück. Während der Pflege ihres Vaters also entstand bei ihr das erste Mal ein hysterisches Symptom und zwar ein Schmerz an einer bestimmten Stelle des rechten Oberschenkels. Der Mechanismus dieses Symptoms lässt sich auf Grund der Analyse hinreichend durchleuchten. Es war ein Moment,

einer sonst räthselhaften Neurose bilden kann. Es war diess bei einem schönen 19jährigen Mädchen, Frl. Mathilde H. . . ., welches ich zuerst mit einer unvollständigen Lähmung der Beine sah, dann aber Monate später zur Behandlung bekam, weil sie ihren Charakter verändert hatte, bis zur Lebensunlust verstimmt, rücksichtslos gegen ihre Mutter, reizbar und unzugänglich geworden war. Das ganze Bild der Patientin gestattete mir nicht die Annahme einer gewöhnlichen Melancholie. Sie war sehr leicht in tiefen Somnambulismus zu versetzen, und ich bediente mich dieser ihrer Eigenthümlichkeit, um ihr jedesmal Gebote und Suggestionen zu ertheilen, die sie im tiefen Schlaf anhörte, mit reichlichen Thränen begleitete, die aber sonst an ihrem Befinden wenig änderten. Eines Tages wurde sie in der Hypnose gesprächig und theilte mir mit, dass die Ursache ihrer Verstimmung die vor mehreren Monaten erfolgte Auflösung ihrer Verlobung sei. Es hätte sich bei näherer Bekanntschaft mit dem Verlobten immer mehr herausgestellt, was der Mutter und ihr unerwünscht gewesen wäre, andererseits seien die materiellen Vortheile der Verbindung zu greifbar gewesen, um den Entschluss des Abbrechens leicht zu machen: so hätten sie Beide eine lange Zeit geschwankt, sie selbst sei in einen Zustand von Unentschlossenheit gerathen, in dem sie apathisch alles über sich ergehen liess, und endlich habe die Mutter für sie das entscheidende Nein gesprochen. Eine Weile später sei sie wie aus einem Traum erwacht, habe begonnen, sich eifrig in Gedanken mit der bereits gefällten Entscheidung zu befassen, das Für und das Wider bei sich abzuwägen, und dieser Vorgang setze sich bei ihr immer noch fort. Sie lebe in jener Zeit der Zweifel, habe an jedem Tag die Stimmung und die Gedanken, die sich für den damaligen Tag geschickt hätten, ihre Reizbarkeit gegen die Mutter sei auch nur in damals geltenden Verhältnissen begründet, und neben dieser Gedankenthätigkeit komme ihr das gegenwärtige Leben wie eine Scheinexistenz, wie etwas Geträumtes vor. – Es gelang mir nicht wieder, das Mädchen zum Reden zu bringen, ich setzte meinen Zuspruch in tiefem Somnambulismus fort, sah sie jedesmal in Thränen ausbrechen, ohne dass sie mir je Antwort gab, und eines Tages, ungefähr um den Jahrestag der Verlobung, war der ganze Zustand von Verstimmung vorüber, was mir als grosser hypnotischer Heilerfolg angerechnet wurde.
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            <p>Ich kehre zu Fräulein Elisabeth v. R. zurück. Während der Pflege ihres Vaters also entstand bei ihr das erste Mal ein hysterisches Symptom und zwar ein Schmerz an einer bestimmten Stelle des rechten Oberschenkels. Der Mechanismus dieses Symptoms lässt sich auf Grund der Analyse hinreichend durchleuchten. Es war ein Moment,         <note place="foot"><p xml:id="p20" prev="p19"> einer sonst räthselhaften Neurose bilden kann. Es war diess bei einem schönen 19jährigen Mädchen, Frl. Mathilde H. . . ., welches ich zuerst mit einer unvollständigen Lähmung der Beine sah, dann aber Monate später zur Behandlung bekam, weil sie ihren Charakter verändert hatte, bis zur Lebensunlust verstimmt, rücksichtslos gegen ihre Mutter, reizbar und unzugänglich geworden war. Das ganze Bild der Patientin gestattete mir nicht die Annahme einer gewöhnlichen Melancholie. Sie war sehr leicht in tiefen Somnambulismus zu versetzen, und ich bediente mich dieser ihrer Eigenthümlichkeit, um ihr jedesmal Gebote und Suggestionen zu ertheilen, die sie im tiefen Schlaf anhörte, mit reichlichen Thränen begleitete, die aber sonst an ihrem Befinden wenig änderten. Eines Tages wurde sie in der Hypnose gesprächig und theilte mir mit, dass die Ursache ihrer Verstimmung die vor mehreren Monaten erfolgte Auflösung ihrer Verlobung sei. Es hätte sich bei näherer Bekanntschaft mit dem Verlobten immer mehr herausgestellt, was der Mutter und ihr unerwünscht gewesen wäre, andererseits seien die materiellen Vortheile der Verbindung zu greifbar gewesen, um den Entschluss des Abbrechens leicht zu machen: so hätten sie Beide eine lange Zeit geschwankt, sie selbst sei in einen Zustand von Unentschlossenheit gerathen, in dem sie apathisch alles über sich ergehen liess, und endlich habe die Mutter für sie das entscheidende Nein gesprochen. Eine Weile später sei sie wie aus einem Traum erwacht, habe begonnen, sich eifrig in Gedanken mit der bereits gefällten Entscheidung zu befassen, das Für und das Wider bei sich abzuwägen, und dieser Vorgang setze sich bei ihr immer noch fort. Sie lebe in jener Zeit der Zweifel, habe an jedem Tag die Stimmung und die Gedanken, die sich für den damaligen Tag geschickt hätten, ihre Reizbarkeit gegen die Mutter sei auch nur in damals geltenden Verhältnissen begründet, und neben dieser Gedankenthätigkeit komme ihr das gegenwärtige Leben wie eine Scheinexistenz, wie etwas Geträumtes vor. &#x2013; Es gelang mir nicht wieder, das Mädchen zum Reden zu bringen, ich setzte meinen Zuspruch in tiefem Somnambulismus fort, sah sie jedesmal in Thränen ausbrechen, ohne dass sie mir je Antwort gab, und eines Tages, ungefähr um den Jahrestag der Verlobung, war der ganze Zustand von Verstimmung vorüber, was mir als grosser hypnotischer Heilerfolg angerechnet wurde.</p></note>
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[143/0149] Ich hebe nochmals hervor: Diese Frau ist nicht krank, das nachholende Abreagiren ist bei aller Aehnlichkeit doch kein hysterischer Vorgang; man darf sich die Frage stellen, woran es liegen mag, dass nach der einen Krankenpflege sich eine Hysterie ergiebt, nach der anderen nicht. An der persönlichen Disposition kann es nicht liegen, eine solche war bei der Dame, die ich hier im Sinne habe, im reichsten Ausmaass vorhanden. Ich kehre zu Fräulein Elisabeth v. R. zurück. Während der Pflege ihres Vaters also entstand bei ihr das erste Mal ein hysterisches Symptom und zwar ein Schmerz an einer bestimmten Stelle des rechten Oberschenkels. Der Mechanismus dieses Symptoms lässt sich auf Grund der Analyse hinreichend durchleuchten. Es war ein Moment, einer sonst räthselhaften Neurose bilden kann. Es war diess bei einem schönen 19jährigen Mädchen, Frl. Mathilde H. . . ., welches ich zuerst mit einer unvollständigen Lähmung der Beine sah, dann aber Monate später zur Behandlung bekam, weil sie ihren Charakter verändert hatte, bis zur Lebensunlust verstimmt, rücksichtslos gegen ihre Mutter, reizbar und unzugänglich geworden war. Das ganze Bild der Patientin gestattete mir nicht die Annahme einer gewöhnlichen Melancholie. Sie war sehr leicht in tiefen Somnambulismus zu versetzen, und ich bediente mich dieser ihrer Eigenthümlichkeit, um ihr jedesmal Gebote und Suggestionen zu ertheilen, die sie im tiefen Schlaf anhörte, mit reichlichen Thränen begleitete, die aber sonst an ihrem Befinden wenig änderten. Eines Tages wurde sie in der Hypnose gesprächig und theilte mir mit, dass die Ursache ihrer Verstimmung die vor mehreren Monaten erfolgte Auflösung ihrer Verlobung sei. Es hätte sich bei näherer Bekanntschaft mit dem Verlobten immer mehr herausgestellt, was der Mutter und ihr unerwünscht gewesen wäre, andererseits seien die materiellen Vortheile der Verbindung zu greifbar gewesen, um den Entschluss des Abbrechens leicht zu machen: so hätten sie Beide eine lange Zeit geschwankt, sie selbst sei in einen Zustand von Unentschlossenheit gerathen, in dem sie apathisch alles über sich ergehen liess, und endlich habe die Mutter für sie das entscheidende Nein gesprochen. Eine Weile später sei sie wie aus einem Traum erwacht, habe begonnen, sich eifrig in Gedanken mit der bereits gefällten Entscheidung zu befassen, das Für und das Wider bei sich abzuwägen, und dieser Vorgang setze sich bei ihr immer noch fort. Sie lebe in jener Zeit der Zweifel, habe an jedem Tag die Stimmung und die Gedanken, die sich für den damaligen Tag geschickt hätten, ihre Reizbarkeit gegen die Mutter sei auch nur in damals geltenden Verhältnissen begründet, und neben dieser Gedankenthätigkeit komme ihr das gegenwärtige Leben wie eine Scheinexistenz, wie etwas Geträumtes vor. – Es gelang mir nicht wieder, das Mädchen zum Reden zu bringen, ich setzte meinen Zuspruch in tiefem Somnambulismus fort, sah sie jedesmal in Thränen ausbrechen, ohne dass sie mir je Antwort gab, und eines Tages, ungefähr um den Jahrestag der Verlobung, war der ganze Zustand von Verstimmung vorüber, was mir als grosser hypnotischer Heilerfolg angerechnet wurde.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/149>, abgerufen am 23.11.2024.