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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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sein müsse, welches die Aufmerksamkeit - und in weiterer Folge die Conversion - gerade auf das Stehen, (Gehen, Sitzen u. dgl.) gelenkt hatte. Die Erklärung für diese Richtung der Aufmerksamkeit konnte man kaum in anderen Verhältnissen suchen als darin, dass Gehen, Stehen und Liegen eben an Leistungen und Zustände jener Körpertheile geknüpft sind, welche hier die schmerzhaften Zonen trugen, nämlich der Beine. Es war also der Zusammenhang zwischen der Astasie-Abasie und dem ersten Falle von Conversion in dieser Krankengeschichte leicht zu verstehen.

Unter den Scenen, welche zufolge dieser Revue das Gehen schmerzhaft gemacht hätten, drängte sich eine hervor, ein Spaziergang, den sie in jenem Curort in grosser Gesellschaft gemacht und angeblich zu lange ausgedehnt hatte. Die näheren Umstände dieser Begebenheit enthüllten sich nur zögernd und liessen manches Räthsel ungelöst. Sie war in besonders weicher Stimmung, schloss sich dem Kreise von befreundeten Personen gerne an; es war ein schöner, nicht zu heisser Tag; ihre Mama blieb zu Hause, ihre ältere Schwester war bereits abgereist, die jüngere fühlte sich leidend, wollte ihr aber das Vergnügen nicht stören, der Mann dieser zweiten Schwester erklärte anfangs, er bleibe bei seiner Frau, und gieng dann ihr (Elisabeth) zu Liebe mit. Diese Scene schien mit dem ersten Hervortreten der Schmerzen viel zu thun zu haben, denn sie erinnerte sich, dass sie sehr müde und mit heftigen Schmerzen von dem Spaziergang zurückgekommen, äusserte sich aber nicht sicher darüber, ob sie schon vorher Schmerzen verspürt habe. Ich machte geltend, dass sie sich mit irgend erheblichen Schmerzen kaum zu diesem weiten Weg entschlossen hätte. Auf die Frage, woher auf diesem Spaziergang die Schmerzen gekommen sein mögen, erhielt ich die nicht ganz durchsichtige Antwort, der Contrast zwischen ihrer Vereinsamung und dem Eheglück der kranken Schwester, welches ihr das Benehmen ihres Schwagers unausgesetzt vor Augen führte, sei ihr schmerzlich gewesen.

Eine andere Scene, der vorigen der Zeit nach sehr benachbart, spielte eine Rolle in der Verknüpfung der Schmerzen mit dem Sitzen. Es war einige Tage nachher; Schwester und Schwager waren bereits abgereist, sie befand sich in erregter, sehnsüchtiger Stimmung, stand des Morgens früh auf, ging einen kleinen Hügel hinauf bis zu einer Stelle, die sie so oft mit einander besucht hatten und die eine herrliche Aussicht bot, und setzte sich dort, ihren Gedanken nachhängend,

sein müsse, welches die Aufmerksamkeit – und in weiterer Folge die Conversion – gerade auf das Stehen, (Gehen, Sitzen u. dgl.) gelenkt hatte. Die Erklärung für diese Richtung der Aufmerksamkeit konnte man kaum in anderen Verhältnissen suchen als darin, dass Gehen, Stehen und Liegen eben an Leistungen und Zustände jener Körpertheile geknüpft sind, welche hier die schmerzhaften Zonen trugen, nämlich der Beine. Es war also der Zusammenhang zwischen der Astasie-Abasie und dem ersten Falle von Conversion in dieser Krankengeschichte leicht zu verstehen.

Unter den Scenen, welche zufolge dieser Revue das Gehen schmerzhaft gemacht hätten, drängte sich eine hervor, ein Spaziergang, den sie in jenem Curort in grosser Gesellschaft gemacht und angeblich zu lange ausgedehnt hatte. Die näheren Umstände dieser Begebenheit enthüllten sich nur zögernd und liessen manches Räthsel ungelöst. Sie war in besonders weicher Stimmung, schloss sich dem Kreise von befreundeten Personen gerne an; es war ein schöner, nicht zu heisser Tag; ihre Mama blieb zu Hause, ihre ältere Schwester war bereits abgereist, die jüngere fühlte sich leidend, wollte ihr aber das Vergnügen nicht stören, der Mann dieser zweiten Schwester erklärte anfangs, er bleibe bei seiner Frau, und gieng dann ihr (Elisabeth) zu Liebe mit. Diese Scene schien mit dem ersten Hervortreten der Schmerzen viel zu thun zu haben, denn sie erinnerte sich, dass sie sehr müde und mit heftigen Schmerzen von dem Spaziergang zurückgekommen, äusserte sich aber nicht sicher darüber, ob sie schon vorher Schmerzen verspürt habe. Ich machte geltend, dass sie sich mit irgend erheblichen Schmerzen kaum zu diesem weiten Weg entschlossen hätte. Auf die Frage, woher auf diesem Spaziergang die Schmerzen gekommen sein mögen, erhielt ich die nicht ganz durchsichtige Antwort, der Contrast zwischen ihrer Vereinsamung und dem Eheglück der kranken Schwester, welches ihr das Benehmen ihres Schwagers unausgesetzt vor Augen führte, sei ihr schmerzlich gewesen.

Eine andere Scene, der vorigen der Zeit nach sehr benachbart, spielte eine Rolle in der Verknüpfung der Schmerzen mit dem Sitzen. Es war einige Tage nachher; Schwester und Schwager waren bereits abgereist, sie befand sich in erregter, sehnsüchtiger Stimmung, stand des Morgens früh auf, ging einen kleinen Hügel hinauf bis zu einer Stelle, die sie so oft mit einander besucht hatten und die eine herrliche Aussicht bot, und setzte sich dort, ihren Gedanken nachhängend,

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[131/0137] sein müsse, welches die Aufmerksamkeit – und in weiterer Folge die Conversion – gerade auf das Stehen, (Gehen, Sitzen u. dgl.) gelenkt hatte. Die Erklärung für diese Richtung der Aufmerksamkeit konnte man kaum in anderen Verhältnissen suchen als darin, dass Gehen, Stehen und Liegen eben an Leistungen und Zustände jener Körpertheile geknüpft sind, welche hier die schmerzhaften Zonen trugen, nämlich der Beine. Es war also der Zusammenhang zwischen der Astasie-Abasie und dem ersten Falle von Conversion in dieser Krankengeschichte leicht zu verstehen. Unter den Scenen, welche zufolge dieser Revue das Gehen schmerzhaft gemacht hätten, drängte sich eine hervor, ein Spaziergang, den sie in jenem Curort in grosser Gesellschaft gemacht und angeblich zu lange ausgedehnt hatte. Die näheren Umstände dieser Begebenheit enthüllten sich nur zögernd und liessen manches Räthsel ungelöst. Sie war in besonders weicher Stimmung, schloss sich dem Kreise von befreundeten Personen gerne an; es war ein schöner, nicht zu heisser Tag; ihre Mama blieb zu Hause, ihre ältere Schwester war bereits abgereist, die jüngere fühlte sich leidend, wollte ihr aber das Vergnügen nicht stören, der Mann dieser zweiten Schwester erklärte anfangs, er bleibe bei seiner Frau, und gieng dann ihr (Elisabeth) zu Liebe mit. Diese Scene schien mit dem ersten Hervortreten der Schmerzen viel zu thun zu haben, denn sie erinnerte sich, dass sie sehr müde und mit heftigen Schmerzen von dem Spaziergang zurückgekommen, äusserte sich aber nicht sicher darüber, ob sie schon vorher Schmerzen verspürt habe. Ich machte geltend, dass sie sich mit irgend erheblichen Schmerzen kaum zu diesem weiten Weg entschlossen hätte. Auf die Frage, woher auf diesem Spaziergang die Schmerzen gekommen sein mögen, erhielt ich die nicht ganz durchsichtige Antwort, der Contrast zwischen ihrer Vereinsamung und dem Eheglück der kranken Schwester, welches ihr das Benehmen ihres Schwagers unausgesetzt vor Augen führte, sei ihr schmerzlich gewesen. Eine andere Scene, der vorigen der Zeit nach sehr benachbart, spielte eine Rolle in der Verknüpfung der Schmerzen mit dem Sitzen. Es war einige Tage nachher; Schwester und Schwager waren bereits abgereist, sie befand sich in erregter, sehnsüchtiger Stimmung, stand des Morgens früh auf, ging einen kleinen Hügel hinauf bis zu einer Stelle, die sie so oft mit einander besucht hatten und die eine herrliche Aussicht bot, und setzte sich dort, ihren Gedanken nachhängend,

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/137>, abgerufen am 27.11.2024.