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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Bahnen; sie hatte sich allmählich mit dem Gedanken vertraut machen müssen, dass sein Interesse für sie durch andere Empfindungen verdrängt, und er für sie verloren sei. Dieses Fehlschlagen der ersten Liebe schmerzte sie aber noch jedesmal, so oft sie an ihn dachte.

In diesem Verhältniss und in der obigen Scene, zu welcher es führte, durfte ich also die Verursachung der ersten hysterischen Schmerzen suchen. Durch den Contrast zwischen der Seligkeit, die sie sich damals gegönnt hatte, und dem Elend des Vaters, das sie zu Hause antraf, war ein Conflict, ein Fall von Unverträglichkeit gegeben. Das Ergebniss des Conflictes war, dass die erotische Vorstellung aus der Association verdrängt wurde, und der dieser anhaftende Affect wurde zur Erhöhung oder Wiederbelebung eines gleichzeitig (oder kurz vorher) vorhandenen körperlichen Schmerzes verwendet. Es war also der Mechanismus einer Conversion zum Zwecke der Abwehr, wie ich ihn an anderer Stelle eingehend behandelt habe.1

Es bleibt hier freilich Raum für allerlei Bemerkungen. Ich muss hervorheben, dass es mir nicht gelang, aus ihrer Erinnerung nachzuweisen, dass sich in jenem Moment des Nachhausekommens die Conversion vollzogen hatte. Ich forschte daher nach ähnlichen Erlebnissen aus der Zeit der Krankenpflege und rief eine Reihe von Scenen hervor, unter denen das Aufspringen aus dem Bette mit nackten Füssen im kalten Zimmer auf einen Ruf des Vaters sich durch seine öftere Wiederholung hervorhob. Ich war geneigt, diesen Momenten eine gewisse Bedeutung zuzusprechen, weil neben der Klage über den Schmerz in den Beinen die Klage über quälende Kälteempfindung stand. Indess konnte ich auch hier nicht eine Scene erhaschen, die sich mit Sicherheit als die Scene der Conversion hätte bezeichnen lassen. Ich war darum geneigt, hier eine Lücke in der Aufklärung zuzugestehen, bis ich mich der Thatsache besann, dass die hysterischen Beinschmerzen ja überhaupt nicht zur Zeit der Krankenpflege vorhanden waren. Ihre Erinnerung berichtete nur von einem einzigen, über wenig Tage erstreckten Schmerzanfall, der damals keine Aufmerksamkeit auf sich zog. Meine Forschung wandte sich nun diesem ersten Auftreten der Schmerzen zu. Es gelang, die Erinnerung daran sicher zu beleben, es war gerade damals ein Verwandter zu Besuch gekommen, den sie nicht empfangen konnte,

1 Die Abwehr-Neuropsychosen. Neurologisches Centralblatt 1. Juni 1894.

Bahnen; sie hatte sich allmählich mit dem Gedanken vertraut machen müssen, dass sein Interesse für sie durch andere Empfindungen verdrängt, und er für sie verloren sei. Dieses Fehlschlagen der ersten Liebe schmerzte sie aber noch jedesmal, so oft sie an ihn dachte.

In diesem Verhältniss und in der obigen Scene, zu welcher es führte, durfte ich also die Verursachung der ersten hysterischen Schmerzen suchen. Durch den Contrast zwischen der Seligkeit, die sie sich damals gegönnt hatte, und dem Elend des Vaters, das sie zu Hause antraf, war ein Conflict, ein Fall von Unverträglichkeit gegeben. Das Ergebniss des Conflictes war, dass die erotische Vorstellung aus der Association verdrängt wurde, und der dieser anhaftende Affect wurde zur Erhöhung oder Wiederbelebung eines gleichzeitig (oder kurz vorher) vorhandenen körperlichen Schmerzes verwendet. Es war also der Mechanismus einer Conversion zum Zwecke der Abwehr, wie ich ihn an anderer Stelle eingehend behandelt habe.1

Es bleibt hier freilich Raum für allerlei Bemerkungen. Ich muss hervorheben, dass es mir nicht gelang, aus ihrer Erinnerung nachzuweisen, dass sich in jenem Moment des Nachhausekommens die Conversion vollzogen hatte. Ich forschte daher nach ähnlichen Erlebnissen aus der Zeit der Krankenpflege und rief eine Reihe von Scenen hervor, unter denen das Aufspringen aus dem Bette mit nackten Füssen im kalten Zimmer auf einen Ruf des Vaters sich durch seine öftere Wiederholung hervorhob. Ich war geneigt, diesen Momenten eine gewisse Bedeutung zuzusprechen, weil neben der Klage über den Schmerz in den Beinen die Klage über quälende Kälteempfindung stand. Indess konnte ich auch hier nicht eine Scene erhaschen, die sich mit Sicherheit als die Scene der Conversion hätte bezeichnen lassen. Ich war darum geneigt, hier eine Lücke in der Aufklärung zuzugestehen, bis ich mich der Thatsache besann, dass die hysterischen Beinschmerzen ja überhaupt nicht zur Zeit der Krankenpflege vorhanden waren. Ihre Erinnerung berichtete nur von einem einzigen, über wenig Tage erstreckten Schmerzanfall, der damals keine Aufmerksamkeit auf sich zog. Meine Forschung wandte sich nun diesem ersten Auftreten der Schmerzen zu. Es gelang, die Erinnerung daran sicher zu beleben, es war gerade damals ein Verwandter zu Besuch gekommen, den sie nicht empfangen konnte,

1 Die Abwehr-Neuropsychosen. Neurologisches Centralblatt 1. Juni 1894.
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[127/0133] Bahnen; sie hatte sich allmählich mit dem Gedanken vertraut machen müssen, dass sein Interesse für sie durch andere Empfindungen verdrängt, und er für sie verloren sei. Dieses Fehlschlagen der ersten Liebe schmerzte sie aber noch jedesmal, so oft sie an ihn dachte. In diesem Verhältniss und in der obigen Scene, zu welcher es führte, durfte ich also die Verursachung der ersten hysterischen Schmerzen suchen. Durch den Contrast zwischen der Seligkeit, die sie sich damals gegönnt hatte, und dem Elend des Vaters, das sie zu Hause antraf, war ein Conflict, ein Fall von Unverträglichkeit gegeben. Das Ergebniss des Conflictes war, dass die erotische Vorstellung aus der Association verdrängt wurde, und der dieser anhaftende Affect wurde zur Erhöhung oder Wiederbelebung eines gleichzeitig (oder kurz vorher) vorhandenen körperlichen Schmerzes verwendet. Es war also der Mechanismus einer Conversion zum Zwecke der Abwehr, wie ich ihn an anderer Stelle eingehend behandelt habe. 1 Es bleibt hier freilich Raum für allerlei Bemerkungen. Ich muss hervorheben, dass es mir nicht gelang, aus ihrer Erinnerung nachzuweisen, dass sich in jenem Moment des Nachhausekommens die Conversion vollzogen hatte. Ich forschte daher nach ähnlichen Erlebnissen aus der Zeit der Krankenpflege und rief eine Reihe von Scenen hervor, unter denen das Aufspringen aus dem Bette mit nackten Füssen im kalten Zimmer auf einen Ruf des Vaters sich durch seine öftere Wiederholung hervorhob. Ich war geneigt, diesen Momenten eine gewisse Bedeutung zuzusprechen, weil neben der Klage über den Schmerz in den Beinen die Klage über quälende Kälteempfindung stand. Indess konnte ich auch hier nicht eine Scene erhaschen, die sich mit Sicherheit als die Scene der Conversion hätte bezeichnen lassen. Ich war darum geneigt, hier eine Lücke in der Aufklärung zuzugestehen, bis ich mich der Thatsache besann, dass die hysterischen Beinschmerzen ja überhaupt nicht zur Zeit der Krankenpflege vorhanden waren. Ihre Erinnerung berichtete nur von einem einzigen, über wenig Tage erstreckten Schmerzanfall, der damals keine Aufmerksamkeit auf sich zog. Meine Forschung wandte sich nun diesem ersten Auftreten der Schmerzen zu. Es gelang, die Erinnerung daran sicher zu beleben, es war gerade damals ein Verwandter zu Besuch gekommen, den sie nicht empfangen konnte, 1 Die Abwehr-Neuropsychosen. Neurologisches Centralblatt 1. Juni 1894.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/133>, abgerufen am 23.11.2024.